Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
möglichst schnell zu entkommen. Aber dass es die Gesellschaft ist, in der es vorn und hinten nicht stimmt und in der furchtbare Dinge passieren, das will dir nicht in den Kopf!«
»Du gibst mir keine Möglichkeit, etwas von dem zu verstehen, was dich so sehr umtreibt.«
Er nickte nachdenklich. »Es ist schwer für mich, darüber zu sprechen. Sehr schwer. Manchmal kann man es kaum aushalten, über die Qualen zu reden, die einem das Leben zugefügt hat.«
Inga musste sich sehr anstrengen, um sich auf seine Worte zu konzentrieren. Der Schmerz in ihrem Ohr verstärkte sich, und ihre abgeschnürten Hände waren kalt und taub. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen und hätte ihn angefleht, ihr zu helfen, sie loszubinden, ihr zu erlauben, sich hinzulegen, um Erleichterung zu finden. Sie war jedoch sicher, dass er sich nicht würde erweichen lassen, und dass er sich ihr gegenüber nur wieder verschließen würde.
Sie wagte einen Vorstoß. »Du hast erzählt, dass du dich in der Welt deiner Eltern und in dem Leben mit ihnen eingerichtet hattest. Dass du zurechtkamst. Dass dann jedoch das Desaster , wie du es nanntest, begann. Ist es … hat man dich von deinen Eltern getrennt?«
Er nickte; er wirkte dabei ein wenig theatralisch, aber vielleicht waren es echte und aufwühlende Gefühle, die ihn in diesem Moment bedrängten. »Man hat mich ihnen weggenommen. Als ich sechs Jahre alt war. Kindesentzug nennt man so etwas. Kein Mensch hat mich gefragt, ob ich das eigentlich will. Oder wie ich mich dabei fühle.«
Das stimmte nicht; er entsann sich einer Frau, die ausgiebig mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte sich sehr einfühlsam
gegeben und immer wissen wollen, ob er sich dieses und jenes vorstellen konnte, und ob er nicht Lust hätte, für eine gewisse Zeit bei anderen Menschen zu wohnen, die es sehr gut mit ihm meinten. Damals hatte er das alles nicht wirklich begreifen können, aber im Nachhinein schien es ihm, dass er schon als der kleine Junge, der er gewesen war, das sichere Gefühl gehabt hatte, dass diese ganze Fragerei aufgesetzt war und dass er überhaupt nicht mitzureden hatte. Dass die Dinge bereits entschieden waren, und dass es nur noch um eine Show ging. Ja, eine Show. Mit dem Thema: Wir beziehen das Kind mit ein und müssen uns hinterher nicht vorwerfen lassen, seine Wünsche und Bedürfnisse ignoriert zu haben.
»Was … was war der Auslöser?«, fragte Inga. »Für den Kindesentzug, meine ich.«
Marius sah sehr angestrengt aus. »Es ist so schwer, sich zu erinnern … Es war nicht die Sache mit dem Arm … oh, ich weiß, die Sozialtussi, die uns betreute, hat Alarm geschlagen. Und meine Lehrerin. Ich war einige Tage nicht in die Schule gekommen, und niemand hatte mich entschuldigt.«
»Du warst in der ersten Klasse?«
»Ja. Und gegen Ende des Schuljahrs fehlte ich, und sie erreichten auch niemanden bei mir daheim.«
»Warum gingst du nicht in die Schule?«
Er schüttelte den Kopf. »Weißt du, da fehlen Bilder in meinem Kopf. Ich erinnere mich einfach nicht richtig. Ich weiß nur, was man mir später erzählt hat. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass sie mich belogen haben.«
»Wer ist sie ?«
»Meine Pflegeeltern. Sie hatten es von Anfang an darauf abgesehen, einen Keil zwischen mich und meine richtigen Eltern zu treiben. Sie tischten mir Schauergeschichten auf.«
»Was erzählten sie?«
»Dass ich allein in der Wohnung war. Dass meine Eltern
tagelang verschwunden gewesen sein sollen. Irgendwie … war angeblich zuerst meine Mutter abgehauen. Und mein Vater bildete sich dann ein, sie sei mit einem Liebhaber durchgebrannt. Er soll sich in den Kopf gesetzt haben, die beiden aufzustöbern und zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei konnte er mich nicht brauchen, und …«
»Und?«, fragte Inga leise.
Es war echter Schmerz in Marius’ Augen. Er atmete schwer. Inga überlegte, wie weit sie gehen durfte. Sie hatte eine tickende Zeitbombe vor sich. Sie durfte sich nicht von der Vertrautheit seiner Züge, seiner Stimme in Sicherheit wiegen lassen. Er war ihr Mann. Sie hatten gute Zeiten miteinander gehabt. Sie durfte nicht vergessen, dass er jetzt ein anderer war.
»Und? Was tat dein Vater mit dir?«, fragte sie noch einmal.
Marius’ Atem klang lauter. Plötzlich verzerrte sich sein Mund. Sein ganzes Gesicht sah aus wie eine groteske Fratze. »Er kettete mich an!«, schrie er. »Kannst du dir das vorstellen? Er kettete mich im Bad an! Das Bad hatte kein Fenster, und er ließ das Licht nicht
Weitere Kostenlose Bücher