Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
adoptiertes Kind wird ein vollständiges Mitglied der Adoptionsfamilie, hat den identischen Status wie ein leibliches Kind. Ein Pflegekind ist etwas ganz anderes. Kronborg hat mir das erklärt. Wenn das Jugendamt über einen Gerichtsbeschluss Eltern das Kind wegnimmt, weil die Eltern ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, das Kind vernachlässigt oder misshandelt haben, dann wird ein Platz in einer Pflegefamilie gesucht, weil das für ein Kind natürlich viel besser und gesünder ist, als in einem Heim zu landen. Solche Pflegeplätze sind wohl nicht einfach zu finden, denn die Menschen, die sie anbieten, lassen sich damit auf ein Kind ein, das ihnen jederzeit wieder weggenommen werden kann. Beispielsweise, wenn sich in der Herkunftsfamilie etwas ändert, die Eltern erfolgreich einen Alkoholentzug oder eine Psychotherapie absolvieren und wieder als erziehungstauglich eingestuft werden. Dann kann ihnen ihr Kind zurückgegeben werden, und die Pflegefamilie hat nicht die geringste Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Denn anders als bei einer Adoption gibt es keine rechtliche Bindung zwischen ihr und dem Kind. Vermutlich
spielen sich da manchmal ziemliche Dramen ab. Ich denke, man muss sehr stark sein, um sich für ein solches Projekt zur Verfügung zu stellen.«
»Hm«, machte Wolf, »und die Lenowskys haben sich also in einem solchen Projekt engagiert? Seltsam. So wie du sie geschildert hast, hätte ich nicht an eine soziale Ader in ihnen geglaubt!«
Karen zuckte mit den Schultern. »Menschen, die andere zurückweisend behandeln, müssen nicht unbedingt ohne jedes soziale Engagement sein. Oder gewesen sein. Die Lenowskys waren alt. Vielleicht waren sie früher anders. Aufgeschlossener und spontaner. Wer weiß das!«
»Tja«, sagte Wolf.
»Jedenfalls«, fuhr Karen fort, »hatten sie wohl Glück mit ihrem Pflegesohn. Er blieb seine ganze Kindheit und Jugend über bei ihnen. Seine leiblichen Eltern drifteten völlig in den Alkohol ab. Die Mutter, sagt Kronborg, hat sich vor etlichen Jahren buchstäblich zu Tode gesoffen, und der Vater ist seit langem unauffindbar. Lebt womöglich auf der Straße. Der Sohn konnte jedenfalls nicht dorthin zurück.«
»Und wieso erzählt Kronborg dir das alles?«, fragte Wolf. »Ich meine, können die uns jetzt nicht irgendwann mal mit der Sache in Ruhe lassen? Du hast doch wirklich genug getan, indem du das Massaker dort überhaupt entdeckt hast! Muss Kronborg jetzt jeden Tag hier aufkreuzen und dir haarklein vom Stand der Dinge berichten?«
»Das Problem ist, dass der Pflegesohn nicht zu erreichen ist«, sagte Karen. »Er ist inzwischen verheiratet, und sie wissen auch, wo er wohnt, aber dort ist niemand. Kronborg wollte wissen, ob ich jemals einen jungen Mann bei den Lenowskys habe ein – und ausgehen sehen. Eventuell auch in der Zeit, in der … nun, in der die Lenowskys bereits gefangen gehalten wurden.«
Wolf runzelte die Stirn. »Was will er denn damit sagen? Dass dieser Pflegesohn eventuell …?«
»Ich weiß es nicht. Kronborg hielt sich sehr bedeckt. Zwischen den Zeilen habe ich aber herausgehört, dass … ja, irgendwie gibt es den Verdacht, dass das Verhältnis zwischen den Lenowskys und diesem jungen Mann nicht besonders gut war. Dass es wohl schon mit dem Kind Probleme gab, und dass die Pflegestelle Lenowsky im Nachhinein nicht mehr als glückliche Lösung angesehen wird.«
»Verdächtigt er den Pflegesohn?«
»So direkt hat er das nicht gesagt. Zumindest erscheint es ihm merkwürdig, dass er verschwunden ist.«
»Er wird verreist sein. Das ist im Sommer doch nichts Besonderes. «
»Natürlich. Aber der junge Mann ist bislang wohl der einzige Anhaltspunkt überhaupt.«
»Und da Kronborg am Schwimmen ist und endlich mal einen Fortschritt vorweisen muss, krallt er sich jetzt in diese neue Theorie.«
»Ich weiß gar nicht, ob er eine Theorie hat«, sagte Karen, »er wollte ja nur wissen, ob …«
»Und? Hast du diesen ominösen jungen Mann je gesehen? «
Karen schüttelte den Kopf. »Nein. Nie. Ich habe noch nie einen jungen Mann dort drüben gesehen. Was nicht so viel sagt, wir wohnen ja noch nicht lange hier. Aber die anderen Nachbarn haben auch nie jemanden gesehen. Das hat mir die Alte erzählt.« Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Haus hin, in dem die alte, missmutige Frau lebte. »Und die Lenowskys haben die Existenz dieses Pflegesohns auch nirgends erwähnt. Keiner wusste etwas darüber.«
»Was die Vermutung erhärtet, dass sich die Lenowskys mit
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