Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
geputzt. Sie hatte nicht geweint während ihrer Schilderung, aber sie merkte, dass sie schniefte. »Ich tat, wozu ich verpflichtet war. Ich meldete den Vorfall meiner Abteilungsleiterin.«
»Und?«
Sie erinnerte sich, wie nervös und verstört ihre Chefin reagiert hatte. Mit einem Blick, der sagte: Mussten Sie jetzt mit so etwas ankommen?
»Sie versuchte es herunterzuspielen«, berichtete sie Kronborg. »Nach dem Motto: Solche Aussagen von den Pflegekindern kennen wir doch! Sie schien ungehalten, weil ich auf Marius’ Schilderung so beunruhigt reagierte. Sie deutete an, dies als ziemlich unprofessionell zu empfinden.«
»Und das traf Sie?«
Sie hatte ihn erstaunt angesehen. »Würde es Sie nicht treffen, wenn man Sie als unprofessionell bezeichnete?«
»Doch, sicher«, räumte Kronborg ein. Er hatte einen Moment überlegt. »Im Übrigen ist das auch mir schon passiert. Ich hatte manchmal von einem Fall entschieden andere Vorstellungen als mein Vorgesetzter. Allerdings bin ich schwer von einem einmal eingeschlagenen Weg abzubringen, wenn ich von dessen Richtigkeit überzeugt bin. Ich entwickle dann eher Trotz als Unsicherheit.«
Clara hatte an ihm vorbei zur Wand gesehen. »Ich habe, jedenfalls damals, leider eine erhebliche Unsicherheit entwickelt. Meine Chefin sagte, sie werde sich kümmern. Ich fragte, was sie tun wolle. Sie meinte, sie werde mit dem Sozialdezernenten sprechen.«
»Tat sie das?«
»Ich glaube schon. Ich … es dauerte eine Weile, bis ich sie wieder auf den Fall ansprach. Sie erklärte, es sei alles in Ordnung. Man habe die Familie noch einmal überprüft, und es bestehe nicht der geringste Anhaltspunkt dafür, dass an Marius’ Aussagen etwas dran sei.«
»Wer war man ?«
»Wie bitte?«
»Es hieß, man habe die Familie noch einmal überprüft. Wer war man ?«
»Das habe ich nicht gefragt«, sagte Clara.
»Weshalb nicht?«
»Ich … ich hatte irgendwie begriffen, dass ich ruhig sein sollte. Meine Einmischung war nicht erwünscht. Das Ganze wurde auf einer höheren Ebene geregelt.«
»Sagte man Ihnen das so?«
»Nein. Es stand eher – bildlich ausgedrückt – zwischen den Zeilen. Im Übrigen wurde mir der Fall dann auch entzogen. «
Kronborg hatte die Augenbrauen gehoben. »Mit welcher Begründung?«
»Meine Chefin persönlich übernahm die Lenowskys. Sie meinte, ich hätte ein gestörtes Verhältnis zu der Familie, und sie glaube nicht, dass daraus noch eine konstruktive Zusammenarbeit werden könnte. Es gab genug anderes für mich zu tun. Ich war froh …« Sie hatte gestockt.
Kronborgs freundliche Augen schienen auf den Grund ihrer Seele zu dringen. »Sie waren froh, aus dieser anstrengenden Nummer heraus zu sein, um es salopp zu formulieren. Sie waren froh, all Ihre unangenehmen Gefühle nach und nach verdrängen zu können. Sie waren froh, bei niemandem anecken zu müssen. Sie waren froh, mit heiler Haut durchgekommen zu sein.«
Seine Worte waren wie Giftpfeile; durch den unverändert verständnisvollen Blick, mit dem er sie begleitete, verschärfte sich nur noch ihre Wirkung.
»Ja«, hatte sie leise erwidert, »Sie haben Recht. Ich war einfach froh, es hinter mir zu haben. Die Verantwortung abgeben zu können. Aber …«
Er sah sie aufmerksam an.
»Seine Augen«, sagte sie, »dieser Blick, mit dem er mich an jenem Tag angesehen hat … der hat mich noch sehr lange verfolgt. Es ist mir irgendwann gelungen, nicht mehr über all
das nachzudenken, aber letztlich … letztlich war diese Geschichte der Grund, weshalb ich meinen Beruf aufgegeben habe. Jedenfalls glaube ich das inzwischen. Ich habe versagt. Ich habe große Schuld auf mich geladen. Und deshalb konnte ich irgendwann nicht mehr weitermachen.«
»Ich dachte immer, du hast zu arbeiten aufgehört wegen uns«, sagte Bert. Er klang gekränkt. »Um dich ganz mir und unserem Kind zu widmen.«
»Ich hätte halbtags weiterarbeiten können. Nach Ablauf des Mutterschutzes. Verstehst du, ich habe dich und Marie als Grund vorgeschoben, für immer aufzuhören.« Sie atmete tief. »Aber so oder so – es war seit damals nichts mehr in Ordnung. Ich meine … ich habe nicht dauernd darüber nachgedacht. Ich habe es eher sogar verdrängt. Es ist mir gelungen, die ganze Geschichte in den tiefsten Tiefen meines Gedächtnisses zu vergraben. Aber ich war in meinem Beruf nicht mehr glücklich. Ich fühlte mich ständig müde und angeschlagen. Ich war … erleichtert, als ich dort für immer aufhören konnte.«
»Meine
Weitere Kostenlose Bücher