Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
ihrer Ankunft ziemlich zugeparkt gewesen, und sie hatte ein Stück zu ihrem Auto laufen müssen. Marius kam von der Bushaltestelle. Ihr fielen sein müder, schleppender Schritt auf und die leicht vornübergebeugte Haltung. Er zog die Schultern zusammen. Vielleicht fror er. Immerhin war er dünn wie ein Spargel. Zu dünn, selbst für einen erst zehnjährigen Jungen. Und entsetzlich blass.
Aber wir sind alle sehr blass zu dieser Jahreszeit, dachte sie.
»Hallo, Marius«, sagte sie betont munter, »du hattest noch Sportunterricht, habe ich gehört. Es war wohl recht anstrengend, oder? Du bewegst dich ein bisschen mühsam.«
Er sah sie an. Er hatte auffallend schöne, grüne Augen. Sehr traurige Augen.
»Mein Fuß ist verletzt«, sagte er.
»Das tut mir Leid. Ist es schlimm?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich habe dein Zeugnis gesehen«, fuhr Clara fort. Sie hatte den Eindruck, ein paar Worte mit ihm wechseln zu müssen, obwohl sie viel lieber weitergegangen wäre. Es hatte sie eigentlich erleichtert, ihn nicht bei seinen Pflegeeltern anzutreffen. Er verursachte ihr stets ein unbehagliches Gefühl. »Du hast ja wirklich fantastische Noten! Gratuliere!«
»Danke«, murmelte er. Er sah sich um, wirkte gehetzt. Das Haus der Lenowskys lag hinter der Straßenecke. Man konnte es nicht sehen. Clara hatte den Eindruck, er wolle sich vergewissern, dass man vor allem sie beide nicht sehen konnte.
»Sie müssen mir helfen«, sagte er, »ich kann dort nicht bleiben.«
Sie war entsetzlich erschrocken. Nicht so sehr wegen seiner Worte an sich, die sie im Grunde nicht überraschten. Sondern deshalb, weil er sie sagte. Er überschritt die Grenze. Noch einen Schritt weiter, und sie würde nichts mehr verdrängen oder beschönigen können.
»Aber, Marius«, sagte sie und wunderte sich selbst, wie unbeteiligt fröhlich sie sein konnte. »Was redest du denn da? Dir geht es doch so gut bei den Lenowskys. Sie haben dich wirklich gern und tun alles für dich.«
»Ich habe immer solchen Hunger«, sagte er.
»Weil du ein ganz schlechter Esser bist. Fred Lenowsky macht sich deshalb größte Sorgen. Das meiste, was sie dir anbieten, rührst du nicht an!«
»Sie geben mir nichts. Manchmal kriege ich von Freitagmittag bis Montagfrüh nichts zu essen.«
Sie hatte derlei Aussagen so oft gehört. Ich bekomme nichts zu essen. Ich werde geschlagen. Mein Pflegevater fasst mich ganz komisch an. Ich werde immer in den Keller gesperrt.
Sie war es gewohnt, damit umzugehen.
In diesem Fall bekam sie plötzlich fast keine Luft mehr.
»Aber, Marius! Ist es nicht eher so, dass du manchmal von Freitag bis Montag keine Lust hast, etwas zu essen? Dass du zu allem Nein sagst?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie hakte nach. »Weißt du, ich habe schon den Eindruck, dass du es deinen Pflegeeltern nicht immer ganz leicht machst. Natürlich, du hast es schwer gehabt. Sicher vermisst du deine richtigen Eltern. Ist es so?«
Er nickte. Er presste die Lippen ganz fest aufeinander wie jemand, der nicht weinen will.
»Kann es sein, du bereitest deinen Pflegeeltern ganz gern ein paar Probleme? Weil du meinst, du würdest sonst deinen
richtigen Eltern untreu? Du hungerst, um ihnen zu zeigen, dass du sie nicht akzeptierst. Du machst ihnen und dir selbst damit deutlich, auf wessen Seite du stehst: nämlich auf der von Mama und Papa.«
Jetzt schüttelte er wieder den Kopf, ungleich heftiger als zuvor.
»Meine Mama und mein Papa haben mir wehgetan!«, rief er plötzlich. »Aber Fred und Greta tun mir auch weh! Er hat mich gegen den Fuß getreten, weil ich das Hundefutter nicht essen wollte. Und dann hat er mich mit dem Gesicht hineingetaucht! «
Ihr Hals zog sich immer enger zusammen.
»Aber, Marius …«, stammelte sie.
Der Blick, mit dem er sie bedachte, war nun fast verächtlich. »Meinen Eltern habt ihr mich weggenommen. Aber bei den Lenowskys muss ich bleiben. Nur weil er ein Anwalt ist und alle Angst vor ihm haben!«
»Das ist doch nicht wahr. Aber …«
»Ich hasse Sie! Sie tun so, als würde es Ihnen um mich gehen. Aber in Wirklichkeit bin ich Ihnen scheißegal. Ich bin euch allen scheißegal!« Schon rannte er los. Sein Hinken fiel stärker auf als vorher.
»Marius!«, rief sie. »Bleib doch stehen! Lauf nicht weg!«
Aber schon war er um die Ecke verschwunden. Sie stand allein auf der Straße im eisigen Wind des letzten Februartages.
»Und dann?«, hatte Kronborg in seiner ruhigen Art gefragt. »Was taten Sie?«
Sie hatte sich die Nase
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