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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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ihrem Gefühl nach über die kritische Grenze bereits hinaus sein. Der Lichtschein dürfte sie nicht mehr erreichen. Wenn nur der Mond nicht so hell wäre! Sie bemühte sich, am Rand der Wiese zu bleiben, wo es immer wieder Bäume gab. Dennoch hatte sie den Eindruck, sich wie ein großer, gut sichtbarer Schatten über das Grundstück zu bewegen. Sie konnte nur hoffen, dass es ihr gelang, zwischen den Felsen abzutauchen, ehe Marius ihre
Flucht bemerkte, und dass er dann glauben würde, sie wäre gleich um das Haus herum nach vorn gelaufen. Er würde sie hoffentlich nicht für so verrückt halten, den weiten und höchst anstrengenden Umweg über die Klippen zu nehmen.
    Nichts war geschehen, und ihre Füße traten bereits auf felsiges Gestein. Noch ein paar Schritte … sie bewegte sich deutlich besser, die Schmerzen wurden weniger. Ihr Blut zirkulierte wieder, ihre Muskeln entkrampften sich.
    Ich schaffe das, dachte sie, ich schaffe das wirklich.
    Sie erreichte die Treppe. Sie nahm die ersten Stufen. Schwarz und rauschend lag unter ihr das Meer.
    Sie wusste, dass man sie jetzt vom Haus aus nicht mehr sehen konnte.
    6
    Kronborg hatte nicht damit gerechnet, Inga Hagenaus Eltern zu erreichen. Ein Mitarbeiter hatte es den ganzen Tag über versucht, aber es war stets nur der Anrufbeantworter mit einem neutralen Text angesprungen.
    »Die sind verreist«, hatte er zu Kronborg gesagt. »Juli! Was willst du da schon erwarten?«
    Es war halb zehn am Abend, und Kronborg hatte beschlossen, endlich nach Hause zu gehen. Da er seit drei Jahren geschieden war – seine Frau war mit einem anderen Mann verschwunden, mit dem sie ihn, Kronborg, wie sich herausstellte, schon seit Jahren betrogen hatte –, zog es ihn nach Dienstschluss nicht wirklich zurück in die leere Wohnung. Und was hieß schon Dienstschluss! Arbeit hatte er, weiß Gott, immer genug. Fertig wurde er sowieso nie.
    Aber nun meldete sich doch sein Magen und sagte ihm mit
einem sehr nachdrücklichen Hungergefühl, dass er seit dem Käsebrötchen am Mittag nichts mehr zu sich genommen hatte, und dass es nicht zu früh wäre, sich daheim wenigstens noch eine Konserve zu öffnen. Oder eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle zu schieben. Kronborg ernährte sich auf eine Art, die ihm selbst manchmal Angst einflößte, denn er überging so ziemlich alles, wozu Ernährungsexperten rieten, und er tat alles, wovor sie warnten. Aber wenigstens rauchte er nicht, und sein Alkoholkonsum hielt sich in vertretbaren Grenzen. Und darauf zumindest war er dann doch stolz.
    Den Zettel mit der Telefonnummer von Inga Hagenaus Eltern hatte ihm der Kollege wieder auf den Schreibtisch gelegt, und Kronborg war schon aufgestanden und hatte nach seinem Jackett gegriffen – das er natürlich an diesem sehr warmen Abend nicht anziehen würde –, da nahm er, einer plötzlichen Eingebung folgend, den Telefonhörer und wählte die Nummer aus Norddeutschland.
    Das Gefühl von Bedrohung, das über ihm lag, seitdem er von der Existenz Marius Peters’ wusste, war in den letzten vierundzwanzig Stunden immer stärker geworden. Alles schien für den jungen Mann als Täter zu sprechen. Er kannte sich aus bei den Lenowskys, und auch wenn ihm von den einstigen Pflegeeltern möglicherweise kein Hausschlüssel ausgehändigt worden war, so hätten sie ihm wohl doch arglos geöffnet, wenn er geklingelt hätte. Auch die Zeitabläufe schienen zu stimmen: Am vorletzten Wochenende musste der Täter das alte Ehepaar überfallen haben. Am darauf folgenden Dienstagmittag war die Pizza bestellt worden. Laut Obduktionsbericht waren Greta Lenowsky die Messerstiche, an denen sie etwa zwei Tage später starb, irgendwann am Dienstagnachmittag beigebracht worden. Am frühen Dienstagabend hatten Marius und Inga Hagenau, wie Nachbarn ausgesagt hatten, ihre Wohnung verlassen und waren in die Ferien
aufgebrochen. Marius Hagenau hätte also durchaus die Möglichkeit gehabt, seine Pflegemutter tödlich zu verletzen, dann nach Hause zu fahren, die vermutlich schon am Vortag gepackte Campingausrüstung zu schultern und mit seiner Frau loszuziehen.
    Greta Lenowsky war über fast sechzig Stunden hin verblutet. Keiner der Stiche hatte sie so verletzt, dass sie rasch daran gestorben wäre. Das passte in das Bild: Sowohl sie als auch ihr Mann hatten langsam und qualvoll verenden sollen. Allerdings hatte Marius Glück gehabt, was die Erfüllung dieses abartigen Wunsches anging; er hätte seine Pflegemutter leicht auch so treffen können, dass

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