Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
gehört hatte. Seitdem sie hatte befürchten müssen, dass er jeden Moment im Zimmer stehen und ihre gelockerten Fesseln entdecken würde. Sie spürte förmlich, wie seine Faust erneut in ihr Gesicht krachte. Sie war fast wahnsinnig geworden vor Angst.
Er wird mich töten. Er ist verrückt. Wenn ihm klar wird, dass ich nicht auf seiner Seite stehe, tötet er mich!
Sie hatte es fast nicht glauben können, als sie ihn abermals hatte die Treppe hinaufgehen hören. Was immer er noch einmal unten im Flur zu tun gehabt hatte, es war ihm nicht eingefallen, ins Zimmer hereinzuschauen. Vielleicht hatte er sein Handy an sich genommen, vielleicht es auch einfach nur ausgeschaltet. Vielleicht war er so verstrickt in sein Gespräch mit Rebecca, dass er sie, Inga, für einige Stunden vergessen hatte.
Es dauerte lange, ehe sich ihr Körper von dem Stress erholt hatte, in den er unversehens gestürzt worden war. Als Inga wieder klar denken konnte und nicht mehr länger nur ein keuchendes, schwitzendes, würgendes Bündel Angst war, stellte sie voller Erstaunen fest, dass sie trotz des Panikanfalls die ganze Zeit über nicht aufgehört hatte, in den Bewegungen fortzufahren, mit denen sie ihre Fesseln zu lockern versuchte. Offenbar tat sie das schon reflexhaft. Vielleicht würde sie noch monatelang nachts im Schlaf gegen Fesseln kämpfen. Falls sie dies hier überlebte.
Es war ihr völlig klar, dass sie in einer tödlichen Falle saß und dass Flucht ihre einzige Chance darstellte.
Alles das, was ihr an Marius schon immer seltsam und erschreckend vorgekommen war, hatte sich potenziert. Seine netten und liebenswerten Seiten, die sie sich immer vor Augen gehalten hatte, um in der Lage zu sein, das Befremdliche zu verdrängen, waren plötzlich völlig verschwunden. Zurück blieb ein Mensch, den sie nicht kannte. Und den sie zutiefst fürchtete.
Der Mann, mit dem sie verheiratet war.
Der Mann, der ein Fremder war.
Sie merkte, dass sie schon wieder dabei war, in Gedanken über ihn zu versinken, und sie befahl sich energisch, sofort damit aufzuhören. Über ihn, ihre Ehe, über die Tragödie, die sich so plötzlich in ihrem Leben ereignet hatte, konnte sie
später nachdenken. Sie durfte jetzt keinerlei Energie verschwenden. Sie musste sich ausschließlich auf ihr Überleben konzentrieren.
Sie kämpfte weiter, während draußen das letzte Abendlicht am Himmel erlosch und Dunkelheit sich über den Garten senkte. Auch im Zimmer war es jetzt ganz dunkel, jedoch kaum kühler. Durch die geschlossenen Fenster konnte keine frische Luft hereingelangen, und so herrschte noch immer drückende, schweißtreibende Schwüle.
Als Inga plötzlich ihre Handgelenke aus der Verschnürung ziehen konnte, wollte sie es im ersten Moment nicht glauben.
Im schwachen, leicht silbrigen Mondlicht, das ins Zimmer floss, betrachtete sie ihre geschwollenen Hände voller Verwunderung. In ihren Armen und Schultern wütete der Schmerz, denn ihre Muskeln hatten sich durch die stundenlange Anspannung völlig verkrampft. Sie versuchte, sich ein wenig zu lockern, aber es tat zu weh, und im Grunde hatte sie dazu auch nicht die Zeit.
Sie neigte sich nach vorn, was ihr wiederum Schmerzen einbrachte, diesmal im Rücken, und zerrte an den Fußfesseln. Ihre Finger waren entsetzlich unbeweglich, und sie fluchte lautlos und verzweifelt vor sich hin. Auf einmal meinte sie, Marius könne jede Sekunde bei ihr auftauchen. Eine ganze Weile lang hatte sie seine Schritte nicht mehr gehört. Das beunruhigte sie. Solange sie wusste, dass er über ihr auf und ab ging, hatte sie ihn gewissermaßen unter Kontrolle, insofern jedenfalls, als sie wusste, wo er sich aufhielt. Hörte sie ihn nicht, dann konnte er überall sein. Vielleicht sogar direkt vor ihrer Tür.
Es schien ihr eine Ewigkeit gedauert zu haben, bis sie endlich ihre Füße befreien konnte. Auch ihre Knöchel waren dick geschwollen, und als sie aufstand und zögernd den ersten Schritt tun wollte, konnte sie in letzter Sekunde nur einen
Schmerzensschrei unterdrücken. Ihr ganzer Körper tat ihr weh. Sie hatte an die zwölf Stunden auf dem Stuhl gekauert, zusammengeschnürt wie ein Paket. Ihr Blutfluss war durch die extreme Fesselung behindert gewesen. Es gab keine Stelle mehr, die nicht schmerzte.
Ihre Beine wollten sie nicht tragen, dennoch rang sie sich ein paar humpelnde Bewegungen im Kreis herum ab. Keine Zeit für Wehleidigkeit. Und wenn sie auf allen vieren kriechen würde – sie musste jetzt so schnell wie möglich
Weitere Kostenlose Bücher