Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
nachdenken, Albert. Ich melde mich bei Ihnen. Es ist nett, dass Sie sich so engagieren. Vielen Dank.«
Im Weitergehen überlegte sie, ob sie sich wirklich jemals wieder bei ihm melden würde. Im ersten Moment war es nur eine höfliche Floskel gewesen, um ihn auf eine möglichst freundliche Art abzuwimmeln. Aber während sie in ihrer Jeanstasche nach dem Autoschlüssel kramte, fragte sie sich, ob sie den Verlauf dieses Tages – den Anruf, ihren daraufhin erfolgten Gang zum Hafen, die Begegnung mit Albert – nicht
vielleicht zu Unrecht als eine zufällige und absurde Verkettung von Ereignissen sah, die ihr die Flucht von dieser Welt vermasselt hatten. Am Ende lag durchaus ein Stück Schicksal dahinter. Sie hatte gehen wollen, ohne sich noch einmal um das Liebste zu kümmern, das Felix gehabt hatte.
»Gleich nach dir«, hatte er manchmal gesagt, »die Libelle kommt gleich nach dir!«
Am Ende sollte sie Alberts Angebot annehmen. Einen guten Platz für das Schiff suchen. Und sich dann erst aus dem Staub machen.
Sie stöhnte, als sie sich in das glühend heiße Auto setzte. Sie ließ alle Fensterscheiben herunter, stellte die Einkaufstüte neben sich auf den Beifahrersitz und schaute hinaus über das Meer. Obwohl es fast windstill war, konnte sie Segelboote draußen erkennen. Sie sah Felix vor sich, diesen besonderen Gesichtsausdruck, den er gehabt hatte, wenn er vom Segeln kam. So gelöst. Glücklich. Er sah aus, als sei er im völligen Einklang mit sich selbst, als sei für einige Stunden alles von ihm abgefallen, was ihn belastete oder ihm das Leben schwer machte.
Sie startete den Motor.
Offensichtlich hatte sie noch eine Aufgabe zu erledigen.
4
Kenzo rannte zum Zaun und bellte das Nachbarhaus an, sobald Karen die Gartentür geöffnet hatte. Es war ein merkwürdiger Tag, Gewitterstimmung lag in der Luft, es war schon am Morgen sehr heiß gewesen, aber die Sonne schien nicht, der Himmel war bleiern, und es wehte ein trockener, böiger Wind.
»Das gibt noch ein ganz schönes Unwetter heute«, hatte Wolf beim Frühstück gemeint, ehe er, mit dem letzten Bissen noch im Mund, losgestürmt war, um an irgendeiner wichtigen Beratung teilzunehmen, in deren Vorbereitung er schon am Vortag Überstunden gemacht hatte und erst kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen war. Er floh vor dem Zusammensein mit seiner Frau. Karen wusste nicht, weshalb er das tat, und natürlich blockte er jeden ihrer Versuche, ihn danach zu befragen, schon im Ansatz ab.
Tat er ihr damit weh? Karen hätte darauf keine Antwort gewusst. Da ihr Leben zunehmend unter einer Glocke von Einsamkeit und Frustration stattfand, vermochte sie einzelne Kränkungen kaum mehr herauszufiltern. Wolfs Verhalten ging in ihrer umfassenden Lebenskrise unter, wurde ein Teil davon und verschmolz mit all dem Kummer, in dem sie sich Tag für Tag bewegte.
Kenzo hörte nicht auf zu bellen, und Karen, die sich gerade auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt hatte, weil sie sich wieder einmal von den Anforderungen des vor ihr liegenden Tages überwältigt fühlte, raffte sich mühsam auf. Der vor ihr liegende Tag … Es war schon halb drei am Nachmittag, und was hatte sie eigentlich bisher getan? Im Wesentlichen gegrübelt. Ein Mittagessen für die Kinder gekocht, Tiefkühlkost, weil sie es nicht geschafft hatte, einkaufen zu gehen. Die Kinder waren dann mit Freunden zum Schwimmen losgezogen. Wie üblich wunderte sich Karen über die Energie anderer Menschen.
Kenzo bellte. Seit drei Tagen bellte er das Nachbarhaus an, wann immer er in den Garten konnte.
Warum wurde Kenzo, der sanfte, stille Kenzo, nur auf einmal zum notorischen Kläffer? Sie trat auf die Veranda hinaus. »Kenzo! Kenzo, komm sofort ins Haus!«
Er wandte den Kopf zu ihr, wedelte mit seinem kurzen Stummelschwanz, drehte sich dann wieder um, sprang unvermittelt am Zaun hoch und stieß einen heulenden Laut aus.
»Kenzo, es reicht jetzt. Sei still und komm her zu mir!«
Er beachtete sie gar nicht – warum sollte auch ausgerechnet er sich um meine Wünsche scheren, dachte Karen. Wolf und die Kinder tun es ja auch nicht.
Aus dem zur anderen Seite angrenzenden Grundstück erklang die erboste Stimme einer alten Frau. »Jeden Tag das gleiche Theater! Das höre ich mir jetzt aber nicht länger an! Können Sie nicht Ihren Hund so erziehen, dass er still ist?«
Karen war versucht, die keifende Alte zu ignorieren, im Haus zu verschwinden und die Tür hinter sich zuzuknallen,
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