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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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sie von hinten am Arm gepackt und herumgerissen wurde. Dies
geschah mit solcher Gewalt, dass ein reißender Schmerz durch ihre Schulter fuhr; die Tränen schossen ihr in die Augen, und sie schnappte für einen Moment entsetzt und geschockt nach Luft. Marius stand drohend über ihr, das Gesicht verzerrt, in den Augen einen fast irren Ausdruck von Hass und Wut.
    »Du dumme Schlampe«, sagte er leise. Inga ahnte die Worte mehr, als dass sie sie tatsächlich hörte. »Du wolltest den Motor abstellen, stimmt’s?«
    Das Schiff, das nun völlig führerlos war, sprang als willenloser Spielball der Wellen auf und ab. Wasser schlug über die Reling. Marius war nass von oben bis unten, und es grenzte an ein Wunder, dass er sich bei diesem Seegang überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. Zweimal wich er im letzten Moment dem schlagenden Baum aus; er musste sein Herannahen gefühlt haben, denn sein Blick war starr nur auf Inga gerichtet, die auf der obersten Stufe zur Kajüte kauerte und wie gelähmt war vor Schmerz.
    Er hat mir das Schultergelenk ausgekugelt, dachte sie entsetzt.
    »Ich will zurück«, brachte sie mühsam hervor, »bitte, Marius, lass uns umkehren.«
    »Ich gehe zu diesen Menschen nicht zurück!«, schrie er. »Nie, hörst du? Niemals !«
    Es gelang Inga, ihr Gewicht so zu verlagern, dass sie sich langsam eine Stufe weiter nach unten schieben konnte. An eine rasche Bewegung war nicht zu denken, dafür waren ihre Schmerzen zu stark, aber vielleicht konnte sie fast unmerklich …
    Obwohl Marius wirkte, als sei er nicht ganz bei sich, funktionierten seine Instinkte, und er spürte, was sie vorhatte. Seine Hand schoss vor und prallte mit grausamer Härte gegen Ingas misshandelte Schulter.

    »Damit du schneller unten bist!« Sie hörte ihn diese Worte noch schreien, ehe der Schmerz ihr fast die Besinnung raubte, dann verlor sie das Gleichgewicht und stürzte in die Kabine hinunter. Ihr Kopf schlug hart gegen irgendeinen Gegenstand, und in der nächsten Sekunde wurde das Tosen des Sturms ganz leise, und Marius’ dunkle Umrisse vor dem hellen Rechteck des Kajütenausgangs flossen auseinander. Inga dachte noch kurz, dass sie unbedingt die Kontrolle bewahren musste, dass sie ausgerechnet jetzt nicht einschlafen durfte, doch da wurde es bereits Nacht um sie, und sie konnte nichts mehr denken oder fühlen.
    5
    Sie versuchte, nicht über die Worte nachzudenken, die Maximilian ihr so wütend und erbost – und dabei irgendwie auch traurig? – an den Kopf geworfen hatte; sie versuchte, an Maximilian möglichst überhaupt nicht zu denken , aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Sie war fassungslos darüber, dass es ihm so leicht und so schnell gelungen war, ihren Kokon zu durchbrechen und an all das zu rühren, was sie sich so mühsam vom Leib hielt, was sie mit solch vehementer Willenskraft an den äußersten Rand ihres Bewusstseins getrieben hatte. Gedanken an früher, an das Zuhause in München, an ihre Arbeit, an ihr Engagement, an ihre Mitarbeiter, an ihre Freunde. An das Leben mit Felix und Maximilian.
    Maximilian war nach seiner Scheidung ein wesentlicher Teil dieses Lebens geworden. Felix hatte manchmal scherzhaft gesagt: »Wir haben Maximilian adoptiert.« Er war wie ein weiteres Familienmitglied gewesen, jemand, der in ihrem
Haus immer willkommen war, der sich nicht anmelden musste, ehe er hereinschneite, der mit ihnen oft zu Abend aß, fernsah, plauderte, manchmal einen Wein zu viel trank und dann im Gästezimmer übernachtete, morgens in die Küche geschlurft kam und Rebecca zusah, die im Nachthemd und barfuß Kaffee kochte und noch zerwühlte Haare und ein blasses, ungeschminktes Gesicht hatte. Sie waren alle drei so vertraut miteinander gewesen, dass sich Grenzen und Distanzen immer mehr auflösten und sie sich einander ohne Masken präsentierten. Rebecca hatte nie das Gefühl gehabt, Maximilian dürfe sie nur vollständig bekleidet und geschminkt sehen, so wie sie sich auch nicht das Geringste dabei dachte, wenn er ihr nur mit einer Unterhose bekleidet auf dem Weg ins Badezimmer begegnete oder noch im Bett lag, wenn sie hereinkam, um sich zu verabschieden. War Felix beruflich verreist, wohnte Maximilian oft auch allein mit Rebecca zusammen. Niemand hatte etwas daran gefunden, aber ungefähr ein halbes Jahr vor seinem Tod hatte Felix einmal gesagt: »Ich glaube, er ist verliebt in dich.«
    Es war ein kalter Aprilabend gewesen, ausnahmsweise saßen Rebecca und Felix allein in ihrem Wohnzimmer. Draußen

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