Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
ist eine völlig abwegige, durchgeknallte Situation. Er spielt, aber warum hört er nicht endlich damit auf?
»Wird die Schlampe ganz schön schmerzen«, sagte Marius, »wenn der Kahn auf Nimmerwiedersehen verschwindet! «
»Die Schlampe? Du meinst Rebecca?«
»Wen sonst? Ihr gehört das Ding hier ja wohl.«
Inga war jetzt fertig angezogen und legte ihre Schwimmweste um. Immer noch vermochte sie nicht recht zu begreifen, was geschah, und sie hoffte, Marius werde ihr jeden Moment sein lachendes Gesicht zuwenden, und alles wäre in Ordnung. Aber irgendetwas sagte ihr, dass er das nicht tun würde. Dieser fremde Ausdruck in seinen Augen – sie hatte ihn noch nie so erlebt, und sie fürchtete sich vor ihm.
Marius machte sich im Fußraum des Cockpits an der Zündung des Motors zu schaffen. Das vertraute Tuckern wollte nicht ertönen. Obwohl er lange im erfrischenden Wasser gewesen war und keine Schwerstarbeit leistete, lief ihm in Sekundenschnelle der Schweiß in Strömen über Gesicht und Arme. Er war aufgeregt und aggressiv. Er war ein anderer.
»Du willst unter Motor fahren?«, fragte Inga. »Zusätzlich zum Segel?«
»Du sagst doch die ganze Zeit, dass wir es eilig haben wegen des Mistrals. Mit Motor sind wir schneller.«
»Das stimmt.« Vielleicht will er doch zurück, dachte sie hoffnungsvoll.
Der Motor sprang endlich an. Marius richtete sich keuchend auf, strich ungeduldig eine nasse Haarsträhne aus seinen Augen. »Endlich«, sagte er, »verdammtes Ding!«
Er glitt hinter das Ruder. »Setz dich«, sagte er, »wir starten. «
Er hatte ihr gegenüber noch nie einen so ruppigen Ton angeschlagen.
Eingeschüchtert kauerte sich Inga auf die Bank, auf der sie bis vor einer Viertelstunde noch friedlich gedöst und den Tag als traumhaft und paradiesisch empfunden hatte. Gleich würde sich entscheiden, ob Marius Kurs auf Le Brusc nehmen oder die große Bucht am Cap Sicié vorbei verlassen würde. Was sie in diesem Fall tun sollte, wusste Inga nicht. Wie ging man um mit einem Wirklichkeit gewordenen Albtraum?
Marius sah sehr konzentriert aus, dabei verschlossen und nicht so, als könne man ihn erreichen.
Ich bin nicht sicher, ob wir nach alldem noch werden zusammenbleiben können, dachte Inga und erschrak, weil eine so plötzliche und unwirkliche Situation so dramatische und weit reichende Gedanken in ihr freisetzte.
Wie sie gefürchtet hatte, schlug Marius die südöstliche Richtung ein. Linker Hand erhoben sich bedrohlich die schwarzen Felsen des Cap Sicié in den Himmel. Von der Höhe einiger Wellenkämme aus konnte man in der Ferne schon die Insel Porquerolles erkennen. Die See war jetzt sehr hoch, die Wellen steil und schwarz, und der Wind fegte dicke, weiße Fetzen Gischt vor sich her. Das Großsegel schlug wieder und wieder völlig unkontrolliert von einer Schiffsseite zur anderen.
»Zieh deinen Kopf ein!«, rief Marius. »Du kriegst sonst noch den Baum ab.«
Sie duckte sich. »Marius, das ist verrückt, was du da vorhast! Das Cap ist gefährlich, und der Mistral wird immer stärker! Ich habe Angst. Bitte lass uns in den Hafen zurückfahren! «
»Keinen Bock. Ich hab einfach keine Lust, die Alte noch mal zu sehen. Du wirst es erleben, wir kriegen ganz schön Kohle für das Schiff, und dann lassen wir es uns auch mal richtig gut gehen!«
»Und wenn wir kentern? Oder gegen die Felsen geschmettert werden?«
»Du vergisst, dass du es mit einem Profi zu tun hast!« Er lachte. Es klang unheimlich.
Krank, dachte Inga, sein Lachen wirkt total krank.
»Bitte, Marius«, sie weinte jetzt fast. Sie wusste nicht, wovor sie mehr Angst hatte: vor den hohen Wellen und dem Sturm oder vor Marius, der ihr auf einmal wie ein unheimlicher Fremder erschien. »Bitte, Marius, sag mir doch, was los ist! Du bist völlig verändert. Warum willst du Rebecca das Schiff wegnehmen? Was hat sie dir denn getan?«
»Das verstehst du nicht. Zieh deinen Kopf ein, verdammt! «
Sie duckte sich im letzten Moment. Der Baum des Großsegels
schrammte haarscharf an ihrem Kopf vorüber. Das Schiff tanzte wie wild. Inga konnte sehen, dass Marius es kaum noch zu steuern vermochte.
»Das wird ja immer schlimmer!«, schrie sie.
»Strömungen!«, schrie er zurück. »Hier vor dem Cap verlaufen verschiedene Strömungen, zum Teil quer zu den Wellen, die der Wind erzeugt. Deshalb werden wir so hin und her geworfen!«
»Bitte kehr doch um! Bitte!«
Er antwortete nicht. Inga erhob sich und taumelte zu ihm hinüber. Das Schiff schwankte so,
Weitere Kostenlose Bücher