Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
sie hatte aus irgendwelchen Gründen keine Verbindung bekommen. Vielleicht war sie gestorben, kaum dass sie den Hörer abgenommen hatte. Man hatte sie erniedrigt und gequält – die Hundeleine sprach eine deutliche Sprache –, aber sie hatte noch die Kraft gefunden, durch das Chaos ihres einstmals so gepflegten Hauses zu kriechen und den lebensrettenden Apparat zu erreichen. Zu spät. Ganz knapp zu spät.
»Wer tut so etwas?«, flüsterte Karen. »Um Gottes willen, wer tut so etwas?«
Sie stand inmitten eines grausamen Albtraums, der unvermittelt über sie hereingebrochen war, und sie merkte, dass sich ihr Gehirn weigerte, in letzter Konsequenz zu begreifen, was ihre Augen sahen. Überall auf dem Teppich waren große Flecken eingetrockneten Blutes, aber sie erinnerte sich später, dass sie in jenen Minuten ständig versucht hatte, diese Flecken als ein Muster zu deuten, das in den Teppich eingewebt worden war, nur um nicht weitere Spuren eines grauenhaften Verbrechens darin erkennen zu müssen.
»Ich rufe jetzt sofort die Polizei«, sagte Pit. Er war, wenn überhaupt möglich, noch bleicher geworden.
Karen sah, dass seine Hände heftig zitterten, als er sein Handy aus der Hosentasche zog. Mit bebenden Fingern schaffte er es erst beim zweiten Anlauf, die Nummer der Polizei einzutippen.
4
Eine Stunde später sah es in der stillen, beschaulichen Wohnstraße aus wie am Drehort eines Films. Es wimmelte von Polizisten und Polizeifahrzeugen, und vor dem Grundstück der Lenowskys war ein weiträumiges Areal mit rotweißen Bändern abgesperrt. Autos, die in die Straße einbogen, wurden angehalten, die Fahrer mussten ihre Papiere vorzeigen. Immer wieder verschwanden Leute im Haus, andere kamen heraus. Handys schrillten. Es ging zu wie im Taubenschlag, aber vermutlich, so dachte Karen, weiß jeder genau, was er zu tun hat und was nicht. Trotz des Gedränges wird niemand Spuren vernichten.
Sie hatte das Gefühl, unter Schock zu stehen. Eine junge, etwas forsche Beamtin hatte ihre Personalien aufgenommen und ihr ein paar Fragen gestellt. Sie war Karen wenig einfühlsam vorgekommen; sie tat so, als sei es ein ganz alltägliches Ereignis, seine Nachbarn ermordet in deren Haus vorzufinden.
»Der ermittelnde Kommissar wird Sie heute noch sprechen wollen«, sagte sie zum Schluss und klappte laut und energisch ihr Notizbuch zu. »Sie halten sich bitte zur Verfügung.«
»Ich wohne ja gleich nebenan«, erwiderte Karen.
Da sich niemand mehr um sie kümmerte, ging sie schließlich
wieder in ihren Garten zurück. Sie hatte Pit nicht mehr gesehen und vermutete, dass auch er befragt wurde.
Er weiß ja, wo er mich findet, dachte sie.
Kenzo begrüßte sie stürmisch. Sie kauerte sich neben ihn ins Gras und streichelte ihn und merkte, dass sich dabei das Zittern ihrer Hände zu beruhigen begann. Ein großer Fliederbusch verdeckte an dieser Stelle den Blick auf das Nachbarhaus, und wenn sie das Erlebte auch nicht verdrängen konnte, so gelang es ihr doch für einige Augenblicke, sich davor zu verstecken.
Die Kinder würden sehr bald aus der Schule kommen und natürlich sofort sehen, dass etwas passiert war. Karen beschloss, ihnen von Anfang an die Wahrheit zu sagen, denn sie würden sowieso recht bald Bescheid wissen, und zwar sowohl über das Verbrechen als auch über den Umstand, dass es ihre Mutter gewesen war, die die Leichen gefunden hatte. Sie fragte sich, ob die beiden sich vorstellen konnten, wie sie, Karen, über eine Leiter auf einen fremden Balkon kletterte und im Schlepptau eines jungen Mannes in ein Haus eindrang, in dem ein grauenhaftes Verbrechen verübt worden war. Dies entsprach ganz sicher nicht dem Bild, das sie von ihrer Mutter hatten.
»Die werden sich alle ganz schön wundern«, sagte sie zu Kenzo, und sie meinte in erster Linie Wolf damit. Vielleicht ging ihm irgendwann auf, dass er seine Frau schon immer unterschätzt hatte.
Sie stand auf und wollte über die Terrasse das Haus betreten, da hörte sie, dass sie gerufen wurde, und drehte sich um. Am Zaun stand die alte Frau, die zur anderen Seite hin neben ihnen wohnte, und winkte ihr eifrig zu.
»Ist das wahr?«, fragte sie zischelnd, als Karen zu ihr hintrat. »Die sind beide ermordet worden, und Sie haben sie gefunden? «
Karen wunderte sich, wie rasch sich Neuigkeiten in einer kleinen Siedlung herumsprachen. Dass etwas Dramatisches geschehen war, ließ sich unschwer erkennen, aber dass man bereits wusste, dass beide Lenowskys tot waren und wer sie
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