Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
gefunden hatte, zeugte von einem außergewöhnlich schnellen und zuverlässigen Funktionieren des nachbarschaftlichen Informationsflusses.
»Ja, es stimmt«, sagte sie, »beide leben nicht mehr.«
»Ermordet?«, fragte die Alte noch einmal nach, und Karen nickte. »Wie es aussieht – ja.«
»Guter Gott! Man hätte nicht gedacht, dass so etwas in unserer Straße passiert, nicht wahr? Und keiner hat etwas gemerkt! «
»Einer schon«, widersprach Karen und wiederholte damit, was Pit vor mehr als einer Stunde zu ihr gesagt hatte. »Kenzo. Mein Hund. Er wusste, dass etwas passiert war, daher hat er ständig das Haus angebellt.«
Es bereitete ihr eine gewisse Genugtuung, dies noch einmal ausdrücklich klarzustellen, denn schließlich hatte sich gerade die alte, mürrische Frau des Öfteren über Kenzos Bellen beschwert.
Die Alte beäugte Kenzo misstrauisch, so als habe er womöglich selbst etwas mit der Tat zu schaffen. »So? Kleiner Hellseher, wie? Na ja, ich muss schon sagen …« Sie holte tief Luft, »es waren zwar reichlich seltsame Leute, aber das hatten sie nicht verdient!«
Karen fand es beruhigend, dass die Alte den Menschen, die sich nicht in ihr persönliches Weltbild einordnen ließen, doch das Recht auf ein friedliches Ende zubilligte.
»Ich bin noch völlig geschockt«, sagte sie, »zwar habe ich die ganze Zeit über gedacht, dass etwas nicht stimmt, aber … ich habe nicht geglaubt, dass … ein Verbrechen …«
Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie sehr wohl an ein Verbrechen
gedacht hatte. Ihr ungutes Gefühl, das Frösteln, wenn sie zu dem Haus hinüberblickte, ihr ständiges Bedürfnis, sich zu kümmern, herauszufinden, was geschehen war … Aber es war etwas völlig anderes, an ein Verbrechen zu denken, als ihm plötzlich gegenüberzustehen. Die unmittelbare Konfrontation mit barbarisch ausgeübter Gewalt blieb etwas, worauf man nicht vorbereitet war und sich auch nicht vorbereiten konnte. Karen hatte gelesen, dass es selbst manchen Polizisten so ging.
»Wie sind sie denn umgebracht worden?«, fragte die Alte, und Karen fühlte sich plötzlich zutiefst abgestoßen von ihrer sensationslüsternen Neugier.
»Das konnte ich nicht erkennen«, antwortete sie kühl. Sie wandte sich zum Gehen, aber die andere war noch nicht fertig.
»Es heißt, Sie sind zusammen mit einem jungen Mann dort eingestiegen«, sagte sie und machte eine Kopfbewegung zu dem Lenowskyschen Haus hinüber. Deutlich konnte man zwischen den Büschen im Garten die Leiter erkennen, die am Balkon lehnte.
»Der Gärtner«, sagte Karen, »er war fest mit ihnen verabredet und konnte sich nicht erklären, weshalb sie diese Verabredung vergessen haben sollten. Sie scheinen in diesen Dingen … eher pingelig gewesen zu sein.«
»Hm«, machte die Alte enttäuscht. In ihrer Fantasie hatte sie den ominösen jungen Mann bereits zu Karens geheimem Liebhaber erkoren, und es hätte ihr Freude bereitet, der Straße damit den zweiten sensationellen Leckerbissen zu servieren.
Karen sagte: »Entschuldigen Sie bitte, es geht mir nicht so gut!«, und wandte sich endgültig ab. Es ging ihr wirklich nicht gut. Allmählich wich die Betäubung, die über ihr gelegen hatte, und nun wurden ihre Knie weich, sie fühlte ein
Kribbeln in den Fingern, und ihr Mund schien wie mit Watte gefüllt und völlig ausgetrocknet.
Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser, starrte dabei zum Fenster hinaus auf den weißen Margeritenbusch, den sie auf der kleinen Frühstücksveranda in einen Terrakottatopf gepflanzt hatte. Die weißen Blumen sahen fröhlich und unschuldig aus. Sie versuchte, ihren Blick an ihnen festzuhalten. An ihrer Ausstrahlung von Reinheit und Frieden. Ein Windhauch bewegte leise die Blütenköpfe. Karen schloss die Augen und sah Fred Lenowsky vor sich, wie er nackt und gefesselt auf der Toilette saß, von seinem Mörder im Tod der Lächerlichkeit preisgegeben.
Ihr wurde übel, sie schlug die Augen auf und betrachtete wieder die Margeriten.
Sie würde ihn von jetzt an immer vor sich sehen. Den toten Fred Lenowsky. Und seine Frau. Das verwüstete Haus. Sie würde es nie wieder loswerden. Ihre Albträume hatten eine neue Dimension erreicht.
Von draußen hörte sie die aufgeregten Stimmen ihrer Kinder. Rasch trank sie noch einen Schluck Wasser, stellte das Glas in die Spüle, straffte in einer unbewussten Geste ihre Schultern.
Sie würde ihnen jetzt erzählen, was geschehen war. Immerhin – dieser Gedanke kam ihr zum ersten Mal – ging im
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