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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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musste; sie hatte einen Moment lang mit schier unüberwindbarem Brechreiz zu kämpfen.
    »Verdammt«, japste sie, als sie wieder sprechen konnte, »was ist das?«
    Pit schob die Gardinen beiseite. Auch ihm war deutlich anzusehen, dass er gegen einen Brechreiz ankämpfen musste. »Wir müssen da jetzt rein.«
    »Ich kann nicht …« Wieder würgte sie.
    »Ich gehe.« Pit schwang sich durch das Fenster. Nach einem Moment des Zögerns folgte ihm Karen, die Hand fest vor ihr Gesicht gedrückt.
    Es ist ein Albtraum, dachte sie.
    Sie wusste jetzt, dass sie etwas Entsetzliches finden würden.
     
    Sie fanden Fred Lenowsky im Bad, das gleich neben dem Zimmer lag, in das sie eingestiegen waren. Er saß nackt auf der Toilette; seine Füße waren mit einem Strick an den emaillenen Sockel gefesselt, die Hände waren auf den Rücken gebunden, und sein Kopf wurde durch eine Wäscheleine aufrecht gehalten, die unter seinem Kinn entlanglief und dann nach oben führte, wo sie an einem Nagel, der aus der Decke ragte, befestigt war. Lenowsky sah auf groteske Weise gedemütigt aus; auch deshalb, weil er eindeutig tot war, aber
dennoch gezwungen wurde, in dieser Haltung der Erniedrigung zu verharren. Zudem war er bereits im Zustand der Verwesung begriffen, was seine Gesichtszüge auf eine grausame Weise entstellte.
    »Wie … ist er gestorben?«, flüsterte Karen und fragte sich gleichzeitig, ob dies zu klären der im Augenblick wichtigste Umstand war. Sie stand in der Tür, erstarrt vor Schreck, blickte auf den toten Mann und vernahm ein immer lauter werdendes Dröhnen in ihren Ohren – oder war es eher ein Rauschen? Sie vermochte nicht zu glauben, was sie sah, und hoffte inständig, sie werde nicht in Ohnmacht fallen. Der widerwärtige Gestank von Verwesung drang von allen Seiten auf sie ein und erfüllte das Haus vollkommen. Karen versuchte, ausschließlich durch den Mund zu atmen. Einen Moment lang dachte sie voller Panik, sie würde den Geruch am Ende nie wieder loswerden.
    Pit, der ebenfalls für einen Moment bewegungsunfähig gewesen war, trat einen Schritt auf die Leiche zu.
    »Na, jedenfalls war es wohl kein natürlicher Tod«, sagte er rau. Seine Stimme gehorchte ihm nicht richtig, er räusperte sich. »Denn normalerweise setzt man sich zum Sterben kaum gefesselt auf eine Toilette, oder?«
    Er stand jetzt direkt vor dem Toten.
    »Keine Ahnung, wie er gestorben ist«, sagte er.
    »Ist er schon lange, ich meine … kann man sehen, wann …?«
    »Bin ich ein Gerichtsmediziner?«, fuhr er sie an.
    Sie verstummte. Lieber Gott, lass es nicht wahr sein, betete sie stumm, ohne in diesem Moment zu realisieren, welchen Triumph über ihren Mann sie am Ende dieses Tages würde feiern können: Denn nun stand fest, dass sie Recht gehabt hatte. Sie war nicht hysterisch, nicht überspannt, nicht verrückt. Sie hatte einfach nur hundertprozentig Recht gehabt.
    »Wir sollten nichts anfassen«, flüsterte sie.
    »Klar«, sagte Pit. Er drehte sich zu ihr um. Sie sah, dass er trotz seiner gebräunten Haut kalkweiß im Gesicht geworden war.
    »Wir müssen nach Frau Lenowsky sehen«, sagte er.
    »Ich glaube nicht, dass ich das kann«, entgegnete Karen mit dieser fremden, leisen Stimme, von der sie erst akzeptieren musste, dass sie zu ihr gehörte. Aber trotz dieser Worte bewegte sie sich rückwärts von der Tür weg und stand nun mitten im Treppenhaus. Es war dämmrig. Helligkeit kam nur aus dem Zimmer, dessen Fenster sie geöffnet hatten, und von unten durch die gefärbten Glasscheiben der Haustür. Dennoch erkannte sie, dass es wie auf einem Schlachtfeld aussah. Die Perserbrücken, die überall verteilt lagen, waren verrutscht, dazwischen lagen allerlei Gegenstände verstreut: Rollen mit Toilettenpapier, Kugelschreiber, Bürsten und Kämme, Akten, Papiere, Notizbücher, der gesamte Inhalt eines Nähkorbs, Unterwäsche, Zeitschriften, eine fleckige Bettdecke. An der Wand wies ein quadratischer, gelblicher Fleck darauf hin, dass dort lange etwas gehangen haben musste; ein Spiegel wahrscheinlich, denn auf dem Fußboden darunter lagen Scherben und Glasperlen verstreut, die zum Rahmen gehört haben konnten.
    »Vandalismus«, sagte Pit, der nun ebenfalls aus dem Bad kam, »irgendwelche Typen, die hier eingedrungen sind, das alte Ehepaar ermordet und dann das Haus verwüstet haben. «
    »Aber wie … ich kann nicht verstehen, wie das passieren kann, ohne dass irgendjemand etwas merkt.«
    »Jemand hat ja etwas bemerkt«, sagte Pit. »Erzählten Sie nicht,

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