Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
aber es geht um meine Existenz!«
Karen zog die Haustür hinter sich zu. »Ich halte Sie nicht für gierig und berechnend. Ich verstehe Sie, und ich sehe jetzt viel mehr Sinn in dem, was wir tun. Gehen wir.«
Sie hatte ihn überrascht, das konnte sie spüren.
Pits Auto parkte vor dem Nachbargrundstück. Er schwang sich auf die Ladefläche des grün lackierten Lieferwagens und hob die Leiter herunter. Karen öffnete das Gartentor. Über den Weg, auf dem der Löwenzahn schon wieder
deutlich höher stand, gelangten sie in den rückwärtigen Garten, wo sie unterhalb des steinernen Balkons stehen blieben. Die Veranda mit den verstaubten Sitzkissen auf den Stühlen und der zerknäulten Tischdecke in der Ecke bot den gleichen trostlosen Anblick wie einige Tage zuvor.
»Ich habe ein ganz dummes Gefühl«, sagte Karen.
»Ich auch«, meinte Pit. Er richtete die Leiter auf. Sie reichte problemlos bis an die obere Balustrade.
»Also, ich klettere jetzt hinauf und verschaffe mir einen Überblick. Warten Sie hier unten. Am Ende haben wir da oben ja gar keine Chance, ins Haus zu kommen.«
Er verschwand nach oben, schwang sich über das Balkongeländer. Karen starrte hinauf. Jenseits des Gartenzauns stand Kenzo und bellte aufgeregt herüber.
» Können Sie etwas sehen?«, rief sie mit gedämpfter Stimme.
Pit erschien neben der Leiter. »Hier ist wirklich ein Fenster, dessen Rollladen offen steht. Das ist unsere einzige Chance.«
»Aber wie wollen Sie es öffnen?«
»Ich habe einen Glasschneider dabei.«
Er ist wirklich gut vorbereitet, dachte Karen. Sie fühlte sich äußerst unwohl in ihrer Haut.
»Ich versuche, ein Stück aus der Scheibe zu schneiden«, fuhr Pit fort, »und dann hindurchzugreifen und das Fenster von innen zu öffnen.«
»Und wenn die Alarmanlage eingeschaltet ist?«
Pit zuckte mit den Schultern. »Das müssen wir riskieren.«
»Soll ich raufkommen?«
»Ja. Hoffentlich sind Sie schwindelfrei!«
Das werde ich gleich feststellen, dachte Karen und machte sich an den Aufstieg. Kenzo fand diesen Anblick offenbar so verblüffend, dass er zu bellen aufhörte und die Bewegungen seines Frauchens mit großen Augen verfolgte.
Oben angekommen, half ihr Pit bei dem letzten Stück über das Geländer. Karen stand auf dem kleinen Balkon und klopfte sich den Staub von den Jeans. Um sie herum standen Terrakotta – Töpfe mit Geranien, Begonien und Margeriten, aber die Blumen boten den gleichen traurigen Anblick wie ihre Leidensgenossen unten im Garten: Ziemlich verwelkt steckten sie in der trockenen Erde und ließen ihre Köpfe hängen.
»Sehen Sie«, sagte Pit, »dieses Fenster will ich öffnen.«
Das Fenster ohne Rollladen wirkte wie das einzige lebendige Auge in dem wie tot wirkenden Haus. Neben all den Anzeichen von beginnender Verwahrlosung und Bedrohung schien es harmlos und normal. Schneeweiße Spitzengardinen bauschten sich jenseits der Scheibe.
»Und Sie meinen, Sie können ein Loch in die Scheibe schneiden?«, fragte Karen. Ihr wurde immer mulmiger zumute. Zudem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie von allen Seiten beobachtet wurden. Sie kam sich entsetzlich exponiert vor auf diesem Balkon. Sicher hatte man in sämtlichen Nachbarhäusern bemerkt, dass hier zwei Menschen über eine Leiter in ein leer stehendes Haus einzudringen versuchten, und man nahm sie nun voller Argwohn ins Visier. Vielleicht verständigte sogar schon jemand die Polizei.
»Ich bin froh, wenn wir hier fertig sind und verschwinden können«, murmelte sie.
Pit hielt bereits den Glasschneider in der Hand und setzte ihn gleich neben dem Fenstergriff von außen auf die Scheibe.
»Das wird gar nicht so schwierig«, meinte er, ohne auf Karens Worte einzugehen.
Das Geräusch, das der Schneider verursachte, war erstaunlich leise. Ein seltsames Knirschen, ein Knacken, und dann zog Pit mit einem Saugnapf ohne größeren Aufwand
ein fast rundes Stück Glas aus der Scheibe. Er legte es vorsichtig auf den Boden, griff durch das Loch in das Innere des Zimmers und öffnete den Fenstergriff. Die Alarmanlage war nicht angesprungen. Das Fenster schwang auf.
Sie wichen beide in derselben Sekunde zurück. Der Gestank, der ihnen aus dem stickigen Haus entgegenschlug, traf sie unvorbereitet und war mörderisch. Süßlich, schneidend, alles nur denkbar Widerwärtige in sich vereinend. Es war so furchtbar, dass Pit schlagartig grau bis in die Lippen wurde und Karen sich zur Seite wenden und eine Hand gegen ihren Mund pressen
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