Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Verständnis für sie auf seiner Seite noch vorhanden gewesen, so hätte sie den Versuch unternommen, in gegenseitiger Offenheit für die Nöte des anderen diesen ganzen Albtraum gemeinsam mit ihrem Mann durchzustehen.
Aber da war nichts mehr. Nicht mehr die kleinste Chance.
»Kommissar Kronborg wollte heute Abend noch einmal vorbeikommen«, sagte sie nur.
»Auch das noch!«, erwiderte Wolf gereizt, und wie aufs Stichwort klingelte es in diesem Augenblick an der Haustür.
»Wäre ich nur heute überhaupt nicht nach Hause gekommen«, fügte Wolf hinzu, und Karen dachte verwundert, dass es sie plötzlich überhaupt nicht mehr interessierte, zu erfahren, wo er dann in diesem Fall genächtigt hätte.
»Wir sind ein paar wenige Schritte weiter«, sagte Kronborg. Er hatte diesmal gar nicht erst den Versuch unternommen, sich auf die Couch zu zwängen und seine Beine, zu Korkenziehern verdreht, unter dem davor stehenden Glastisch zu verstauen. Er hatte stattdessen in einem der Sessel Platz genommen und war mit dieser Sitzgelegenheit unauffällig ein paar Zentimeter nach hinten gerutscht, so dass er nun einigermaßen bequem saß. Karen hatte Gläser und zwei Flaschen Wasser gebracht. Der Abend war sehr warm, fast schwül. Die Hitzewelle schien in diesem Sommer nicht abreißen zu wollen.
Ich frage mich, weshalb man da noch in die Türkei reisen soll, dachte sie.
Wolf saß mit Duldermiene auf dem Sofa, aber er schien nicht nur zu simulieren: Er war tatsächlich grau vor Müdigkeit.
»Also, wir haben jetzt rekonstruieren können, wann genau
dieser letzte Anruf stattgefunden hat«, fuhr Kronborg fort, »und zwar war das am vergangenen Donnerstag, morgens um halb drei.«
Er sah Wolf und Karen an. »Vergangenen Donnerstag, morgens um halb drei«, wiederholte er, »müsste bei Ihnen das Telefon geklingelt haben. Und Sie haben offensichtlich das Gespräch auch angenommen.«
Karen spürte, wie sie erblasste. Sie verstand nicht, weshalb ihr nicht bei dem Gespräch am Mittag schon alles klar gewesen war. Sie schaute zu Wolf hin und erkannte an seiner Miene, dass auch er schlagartig begriffen hatte, um welchen Anruf es ging.
»Ach, du Scheiße«, sagte er, und die Verwendung eines solchen Ausdrucks in Gegenwart eines Fremden war äußerst ungewöhnlich für ihn.
»Sie erinnern sich an den Anruf?«, hakte Kronborg nach.
»Ja«, krächzte Karen. Sie räusperte sich. »Ja«, wiederholte sie mit etwas festerer Stimme.
»Und …?«
Sie stand auf, weil sie plötzlich meinte, keine Sekunde länger sitzen zu können. Jenseits des großen Fensters zur Veranda konnte sie das Haus der Lenowskys sehen. Weiß schimmerten seine Mauern zwischen dem dichten, dunkelgrünen Laub der Büsche und Bäume hindurch. Ein friedlicher, stiller, warmer Sommerabend. Kenzo lag draußen mitten auf dem Rasen und schnappte immer wieder nach einer lästigen Fliege, die seinen Kopf umkreiste. Er hatte aufgehört, das Nachbarhaus anzubellen. Die Menschen hatten endlich begriffen, was er die ganze Zeit über gewusst hatte. Er musste nicht mehr darum kämpfen, es ihnen klar zu machen.
»Es kam ein Anruf«, sagte sie, »nachts. Er riss mich … uns aus dem Schlaf. Ich … ich dachte sofort, das könnte nichts Gutes bedeuten und lief zum Telefon …«
Sie stockte. Ich habe so schrecklich versagt, dachte sie.
Kronborg sah sie erwartungsvoll an. Wolf hatte sein Gesicht in den Händen vergraben.
»Ich meldete mich, aber vom anderen Ende der Leitung kam nur ein … Stöhnen. Nichts sonst. Nur ein Stöhnen. Es war, als wolle jemand etwas sagen, könnte aber kein Wort hervorbringen. Es war … furchtbar. Entsetzlich und beängstigend. «
»Sie erkannten niemandes Stimme?«
»Nein. Diese … diese Stöhnlaute waren so unmenschlich, ich glaube, selbst die Stimmen meiner eigenen Kinder hätte ich darin nicht erkannt. Ich dachte …«
»Ja?«
»Ich hatte Angst, es könnte meine Mutter sein. Sie ist alt und lebt allein, und ich dachte plötzlich, vielleicht hat sie einen Schlaganfall erlitten, oder es ist sonst etwas mit ihr passiert …«
»Offenbar dachten Sie aber nicht an einen perversen Liebhaber derartiger Spiele?«, fragte Kronborg. »Irgendjemand, der Gefallen daran findet, wildfremde Menschen anzurufen und mit seinem Stöhnen zu erschrecken?«
»Mein Mann dachte das«, sagte Karen. Sie sah wieder zu Wolf hin, der den Kopf gehoben hatte und sie unverwandt ansah. »Er meinte, das sei ein Verrückter gewesen, und ich sollte die Sache auf sich beruhen
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