Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
zurückkam, sagte sie: »Ich wünschte, ich könnte ihm viel mehr helfen.«
»Du hast, weiß Gott, genug getan«, sagte Wolf, »der Rest ist jetzt sein Job.«
Sie sahen einander an. Karen bemerkte eine leise Unsicherheit in seinem Blick. Er wusste, dass er ihr Unrecht getan hatte in den letzten Wochen, dass er einen Fehler gemacht hatte, sie immer wieder als hysterisch und überspannt zu bezeichnen.
Wenn er sich jetzt entschuldigen würde, dachte sie, oder wenn er es wenigstens ansprechen würde … vielleicht hätten wir eine Chance …
Aber der Moment verflog, die Unsicherheit verschwand aus Wolfs Augen. Er hatte nichts dazu gesagt, er würde auch nichts mehr sagen.
»Ich gehe schlafen«, verkündete er. »Gott, war das ein harter Tag! Und zur Krönung dann auch noch dieser Typ hier!«
Er überließ es Karen, die Gläser und Flaschen in die Küche zu räumen. Sie hörte ihn, wie er sich im Bad mit der elektrischen Zahnbürste die Zähne putzte. Es war neun Uhr, weit vor der Zeit also, zu der er sonst ins Bett ging. Er hatte so müde ausgesehen.
Er ist auf dem Rückzug vor mir, dachte sie, während sie die Spülmaschine einräumte, und das strengt ihn an. Es kostet Kraft, mit einem Menschen zu leben, den man nicht mehr liebt.
Vielleicht fühle ich mich deshalb so schwer.
Vielleicht liebe ich ihn auch nicht mehr.
Der Gedanke überraschte sie. An ihren Gefühlen für Wolf hatte sie nie gezweifelt. Es war vielleicht an der Zeit, sich nicht länger nur als das Opfer seiner Launen zu sehen. Sondern herauszufinden, ob sich nicht auch bei ihr etwas geändert hatte.
Sie fragte sich, wann ihm auffallen würde, dass sie nicht mehr neben ihm schlief.
6
»Es wird mir schwer fallen, morgen abzureisen«, sagte Inga. »Ich hoffe, ich tue das Richtige. Ohne Marius abzufliegen … Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, morgen Abend in Marseille in das Flugzeug zu steigen – ohne ihn!«
Sie und Rebecca saßen auf der Veranda von Rebeccas Haus, es war tiefdunkel, eine warme, rabenschwarze Sommernacht voller Sterne.
»Sternschnuppen«, hatte Rebecca gesagt, »wir müssen auf Sternschnuppen achten. Wir haben fast August. In diesen Nächten sieht man hier besonders viele.«
Eine Frau, die an Sternschnuppen denkt, ist nicht mehr am tiefsten Grund ihrer Depression, hatte Inga gedacht.
Sie war müde. Der Tag war lang gewesen und anstrengend. Die Wanderung bis hinüber nach La Madrague, das Mittagessen dort, in dessen Verlauf Rebecca vorgeschlagen hatte, man könne sich duzen. Der Rückweg, tausendmal anstrengender als der Hinweg, was am Essen liegen mochte, aber auch an der nun doch rapide steigenden Wärme des Tages. Verklebt und verschwitzt waren sie daheim angekommen, und spontan hatte Inga gesagt: »Ich würde jetzt gern baden. Kann man von deinem Garten aus hinunter ans Meer gelangen? «
Rebecca hatte sofort das Visier herabgelassen, hatte dann aber widerstrebend geantwortet: »Felix hat damals eine Holztreppe zwischen den Felsen anlegen lassen. Am Ende des Gartens.«
»Kommst du mit?«
»Ich war nicht mehr dort unten seit …«
»Du lebst hier in dem Haus. Wo ist der Unterschied, wenn du auch noch hinunter in die Bucht gehst?«
»Es zieht den Kreis zu weit«, hatte Rebecca gesagt.
Inga hatte überlegt, wie es sein konnte, dass ein Mensch auf diese Art lebte. Innerhalb eines Radius, der die fünf Zimmer eines einsam gelegenen Hauses und den schönen, aber völlig menschenleeren Garten umfasste. Hätte sie je ein Beispiel für eine westliche Form der Witwenverbrennung gesucht, so hätte sie es in Rebecca gefunden. Eine Frau, die mit dem Tod des Partners zu leben aufhört. Die noch atmet, isst und trinkt, aber dennoch nicht mehr am Leben ist.
Sie war dann allein zum Baden gegangen, und einmal mehr war ihr aufgefallen, welch ein Paradies sich der verstorbene Felix Brandt und seine Frau geschaffen hatten. Die Treppe zur Bucht hinunter war steil, aber dank eines stabilen Geländers gut zu bewältigen. Zum größten Teil bestand sie aus massiven Holzbrettern, aber stellenweise hatte man auch eine natürliche Stufenbildung im Felsen ausgenutzt. Während sie diese Treppe hinunterlief – unter sich das blaue Meer und das kleine Stück weiß leuchtenden Sandstrands, über sich den hoch gewölbten Himmel, an dem Möwen schreiend entlangschossen –, empfand Inga zum ersten Mal seit langer Zeit plötzlich wieder ein Gefühl von überwältigender Freiheit, ein Gefühl, im Einklang mit sich selbst zu sein, lebendig zu
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