Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
unfreundlich, aber sehr von oben herab. Sie war sich wie ein gemaßregeltes Schulmädchen vorgekommen.
»Nein«, sagte Kronborg, »dieses Gespräch meine ich nicht. Sie wissen, dass Greta Lenowsky in den letzten Minuten
vor ihrem Tod versucht hat, um Hilfe zu telefonieren. Es war Ihre Nummer, die sie gewählt hat.«
Karen brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was er meinte. »Meine … unsere Nummer?«
»Ja. Wir haben noch nicht herausgefunden, an welchem Tag das war, aber das wissen wir bald. Fest steht, dass die letzte Nummer, die von diesem Apparat aus angewählt wurde, die Ihre war.«
»Es könnte sich aber dann auch um das Gespräch handeln, das ich mit Fred Lenowsky geführt habe?«
»Möglich«, räumte Kronborg ein, »aber das wird sich feststellen lassen. Meine Hypothese ist im Moment die, dass es Greta Lenowsky tatsächlich noch gelungen ist, einen Anruf zu tätigen, und dass sie dabei Ihre Telefonnummer benutzt hat. Sie war vermutlich nicht einmal mehr in der Lage, die Polizei anzurufen, sie hat einfach die Wahlwiederholung gedrückt. Wegen des Gesprächs mit Fred Lenowsky einige Tage zuvor war Ihre Nummer gespeichert und wurde automatisch angewählt.« Er sah sie fragend an. »Aber offenbar – kam ein Gespräch nicht zustande?«
Karen hatte das Gefühl, alles in ihrem Kopf beginne sich zu drehen, als spreche Kronborg schneller, als sie denken konnte, und als hinke sie all dem, was er sagte, hoffnungslos hinterher. »Das würde doch bedeuten, dass … Frau Lenowsky ziemlich bald nach meinem Gespräch mit ihrem Mann gestorben ist, oder? Denn sonst hätte sie doch sicher inzwischen mit jemand anderem gesprochen, und es wäre nicht unsere Nummer als Letzte auf dem Apparat gewesen.«
»Die gerichtsmedizinischen Gutachten liegen natürlich noch nicht im Detail vor«, sagte Kronborg, »aber nach der ersten Untersuchung der Toten schätzt der Arzt, dass Fred Lenowsky seit einer knappen Woche tot ist. Seine Frau ist etwas später gestorben, vielleicht erst vor vier oder fünf Tagen.«
»Aber …«
»Kurz nach Ihrem Gespräch mit Fred Lenowsky ist vermutlich der Mörder in das Haus eingedrungen. Von dem Moment an gab es für die beiden alten Leute keine Möglichkeit mehr, nach draußen zu telefonieren.«
Karen schluckte. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, als sie sagte: »Dann haben sie noch ein paar Tage gelebt. Als der … der Täter schon im Haus war.«
»Ja.« Kronborg überlegte eine Sekunde und sagte dann: »Sie sind gefoltert worden. Alle beide. Stundenlang. Der oder die Täter haben sie in ihrem eigenen Haus festgehalten und gequält. Möglicherweise über zwei oder sogar drei Tage. Für die beiden alten Menschen ist der Tod schließlich eine Erlösung gewesen.«
Der Schwindel in Karens Kopf wurde stärker. »O Gott«, brachte sie leise hervor.
Über Kronborgs kühle, intelligente Augen glitt ein Schatten von Mitgefühl. Karen konnte spüren, dass sie weiß bis in die Lippen geworden war. Die beiden alten Leute. Die spießige Greta mit ihren Häkeldeckchen unter den Blumentöpfen im Wohnzimmer und ihren festgefügten, engen Ansichten, und der herrschsüchtige Fred, der stets darauf beharrte, Recht zu haben, und seine Meinung auf eine Art äußerte, die Widerspruch von vornherein im Keim erstickte … Sie hatte sie unsympathisch gefunden. Aber doch auch normal, alltäglich. Keinesfalls prädestiniert für den Albtraum, durch den sie am Ende ihres Lebens hatten gehen müssen. Und keinesfalls hatten sie ihn verdient. Für nichts in der Welt.
»O Gott«, sagte sie noch einmal. Sie sah Kronborg verzweifelt an. »Ich habe viel zu spät gehandelt. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt! Ich wusste es einfach. Mein Hund wusste es. Er bellte Tag für Tag ihr Haus an, wütend und heftig. Er tut so etwas sonst nie. Sie müssen noch gelebt haben,
als er damit anfing. Als ich dieses Gefühl von Bedrohung spürte!« Sie stand auf und meinte gleich darauf, ihre Beine müssten unter ihr wegknicken. Sie hielt sich an der Sessellehne fest. »Ich hätte sie retten können. Und ich habe nichts getan. Ich habe mich feige verkrochen und mir von meinem Mann einreden lassen, dass ich spinne.«
Sie brach in Tränen aus.
5
»Also, vielleicht könntest du mir das alles mal erklären!«, sagte Wolf.
Eigentlich hatte Karen ihm schon alles erklärt. Seine Miene hatte jedoch mit jedem Satz, den sie sagte, größere Ungläubigkeit ausgedrückt, und eigentlich schien er sagen zu wollen: Sag, dass das nicht wahr
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