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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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sein und eine Zukunft zu haben. Die Kraft dieser Empfindung erschreckte sie, denn sie hatte gerade ihren Mann verloren, und es schien ihr nicht an der Zeit, durchströmt zu sein von Freude auf das Leben, das vor ihr lag. Doch dann ging ihr auf, dass dieses Gefühl in ihr war, weil Marius nicht mehr bei ihr war. Noch immer glaubte sie nicht, dass er ertrunken war – sie hätte nicht zu erklären vermocht, was genau ihr diese Sicherheit gab, doch sie meinte zu wissen, dass er lebte –, aber es war völlig klar, dass sie und er nicht mehr zusammenkommen würden. Es war vorbei, und angesichts der Erleichterung, mit der sie dieser Umstand erfüllte, konnte
es an der Richtigkeit ihrer Entscheidung keinen Zweifel geben. Es war nicht in erster Linie die herrliche Umgebung, die ihr ihren Frieden zurückgab, die Weite des Himmels und des Meeres und das Herumklettern auf der Felswand, sondern es war das Bewusstsein, sich aus einer Umklammerung befreit zu haben, von der sie sich jetzt erst eingestehen konnte, wie atemlos und ängstlich sie darin gefangen gewesen war. Sie hatte sich Rebecca geöffnet, hatte ihr von einigen Problemen mit Marius berichtet, hatte ihr die Situationen geschildert, in denen sie von dem Gedanken bedrängt worden war, etwas stimme nicht mit ihm … Es war das erste Mal, dass sie dies einem anderen Menschen anvertraut hatte, und es war wie ein Dammbruch gewesen. Immer mehr Episoden fielen ihr nun ein, Vorkommnisse, die sie so hartnäckig verdrängt hatte, dass sie wirklich vergessen schienen, erhoben sich aus den verborgensten Winkeln ihrer Erinnerung und standen plötzlich glasklar vor ihr.
    Wie hatte sie es nur so lange mit ihm ausgehalten? Wie hatte sie derart eindeutige Signale so konsequent zur Seite schieben können?
    Leichtfüßig – als wäre sie buchstäblich leichter geworden – langte sie unten an. Im etwa dreißig Meter breiten Halbrund schmiegte sich der Strand in den Felsen. In flachen, schaumgekrönten Wellen lief das Meer über den Sand. Inga hatte sich umgesehen, aber keinen anderen Menschen entdeckt. Es gab offenbar noch ein weiteres Grundstück, von dem aus man Zugang zu der Bucht hatte, denn am anderen Ende des Strandes führte eine zweite Treppe die Felsen hinauf. Inga konnte weit oben ein kleines Stück Mauer erkennen, das zu einem Haus oder zur Umfriedung des Grundstücks gehören mochte.
    Sie hatte die Shorts abgestreift, die sie über dem Badeanzug trug, und war in die Wellen gelaufen. Das Wasser war
kälter als erwartet, aber auch wunderbar erfrischend, und nach wenigen Minuten fühlte sich Inga völlig im Einklang mit dem Element. Mit kräftigen Stößen schwamm sie ein weites Stück hinaus, ließ sich dann auf dem Rücken treiben und betrachtete die dunklen Felsen, die hinter ihr lagen, und den blauen Himmel darüber. Forschte ein wenig zaghaft in sich, ob das wunderbare Gefühl des Befreitseins noch anhielt, denn wer wusste, ob es nicht so schnell vergehen würde, wie es gekommen war, aber sie fand es noch; es war stark und intensiv und trug sie mit der gleichen Sicherheit wie das Wasser.
    Sie hatte dann noch eine Weile im Sand gelegen und immer ein wenig gehofft, Rebecca werde vielleicht doch noch erscheinen, aber sie ließ sich nicht blicken.
    Schließlich hatte sich Inga an den Aufstieg gemacht.
    Und nun saßen sie auf der Veranda, ein Windlicht flackerte leicht, sie hatten Gläser mit Rotwein vor sich stehen, und Inga fühlte die angenehme Mattigkeit in allen Knochen, die ein Tag voller Bewegung in Sonne, Wasser und Wind hinterlässt.
    »Was wirst du als Erstes tun, wenn du in Deutschland bist?«, fragte Rebecca nun auf Ingas Bemerkung hin, wie schwer es ihr fallen würde, wieder abzureisen.
    »Ich werde mir eine Wohnung suchen«, sagte Inga, »ja, das wird wohl das Erste sein. Unsere gemeinsame Wohnung kann Marius behalten.«
    »Du bist also völlig sicher, dass er wieder auftaucht?«
    »Eigentlich ja. Ich könnte nicht erklären, weshalb das so ist, aber irgendetwas sagt mir … Ich hoffe nur, dass er bald erscheint. Ich muss unsere Wohnung sonst kündigen. Länger als höchstens zwei Monate kann ich mir zwei Mieten keinesfalls leisten.«
    »Und da bist du schon sehr großzügig«, meinte Rebecca,
»nach allem, was war, könntest du auch sofort kündigen, und er muss dann sehen, was er tut.«
    »Ich habe mir das schon überlegt. Das Risiko ist jedoch, dass er, wenn er plötzlich nach Deutschland kommt und kein Dach über dem Kopf hat, versuchen wird, wenigstens

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