Der Fremde (German Edition)
viereckiges Tintenfass mit violetter Tinte geholt. Als er mir den Namen der Frau genannt hat, habe ich gemerkt, dass es eine Maurin war. Ich habe den Brief aufgesetzt. Ich habe ihn ein bisschen aufs Geratewohl geschrieben, aber ich habe mich bemüht, Raymond zufriedenzustellen, weil ich keinen Grund hatte, ihn nicht zufriedenzustellen. Dann habe ich den Brief vorgelesen. Er hat mir zugehört, und dabei rauchte er und nickte mit dem Kopf, dann hat er mich gebeten, ihn noch einmal zu lesen. Er war völlig zufrieden. Er hat gesagt: «Ich wusste doch, dass du das Leben kennst.» Ich habe zuerst nicht bemerkt, dass er mich duzte. Erst als er mir erklärt hat: «Jetzt bist du ein richtiger Kumpel», ist es mir aufgefallen. Er hat seinen Satz wiederholt, und ich habe «ja» gesagt. Mir war es egal, sein Kumpel zu sein, und er sah wirklich so aus, als wäre er erpicht darauf. Er hat den Brief zugemacht, und wir haben den Wein ausgetrunken. Dann haben wir eine Weile geraucht, ohne etwas zu sagen. Draußen war alles ruhig, wir haben das Sausen eines vorbeifahrenden Autos gehört. Ich habe gesagt: «Es ist spät.» Raymond meinte das auch. Er hat angemerkt, dass die Zeit schnell verginge, und in gewisser Weise stimmte es. Ich war müde, aber es fiel mir schwer aufzustehen. Ich muss abgespannt ausgesehen haben, weil Raymond zu mir gesagt hat, man dürfte sich nicht gehenlassen. Zuerst habe ich nicht verstanden. Er hat mir dann erklärt, dass er von Mamas Tod gehört hätte, dass es aber etwas wäre, was irgendwann kommen musste. Das war auch meine Meinung.
Ich bin aufgestanden, Raymond hat mir sehr fest die Hand gedrückt und gesagt, unter Männern verstände man sich immer. Beim Hinausgehen habe ich die Tür zugemacht und bin einen Moment im Dunkeln auf dem Treppenabsatz stehen geblieben. Das Haus war still, und aus den Tiefen des Treppenhauses stieg ein kaum spürbarer feuchter Hauch auf. Ich hörte nur das Pulsieren meines Blutes, das in meinen Ohren pochte. Ich habe mich nicht gerührt. Aber im Zimmer des alten Salamano hat der Hund dumpf gewinselt.
IV
Ich habe die ganze Woche fleißig gearbeitet. Raymond ist gekommen und hat mir gesagt, er hätte den Brief abgeschickt. Ich bin zweimal mit Emmanuel ins Kino gegangen, der nicht immer versteht, was auf der Leinwand geschieht. Man muss es ihm dann erklären. Gestern war Sonnabend, und Marie ist gekommen, wie wir verabredet hatten. Ich hatte große Lust auf sie, weil sie ein schönes Kleid mit rot-weißen Streifen und Ledersandalen anhatte. Man ahnte ihre straffen Brüste, und die Sonnenbräune gab ihr das Gesicht einer Blume. Wir haben einen Bus genommen und sind ein paar Kilometer aus Algier hinausgefahren, an einen zwischen Felsen eingeengten und landwärts von Schilf gesäumten Strand. Die Vieruhrsonne war nicht sehr heiß, aber das Wasser war warm, mit langen und trägen kleinen Wellen. Marie hat mir ein Spiel beigebracht. Man musste beim Schwimmen vom Kamm der Wellen Schaum trinken, ihn im Mund ansammeln und sich auf den Rücken legen, um ihn in den Himmel zu spritzen. So entstand ein sprühender Spitzenschleier, der in der Luft zerstäubte oder mir als warmer Regen wieder aufs Gesicht fiel. Aber nach einiger Zeit brannte mein Mund von der Schärfe des Salzes. Marie ist dann zu mir geschwommen und hat sich im Wasser an mich geschmiegt. Sie hat ihren Mund auf meinen gedrückt. Ihre Zunge erfrischte meine Lippen, und wir haben uns eine Zeit lang in den Wellen herumgewälzt.
Als wir uns am Strand wieder angezogen haben, sah Marie mich mit glänzenden Augen an. Ich habe sie geküsst. Von dem Moment an haben wir nicht mehr gesprochen. Ich habe sie an mich gedrückt gehalten, und wir hatten es eilig, einen Bus zu erreichen, zurückzufahren, zu mir zu gehen und uns auf mein Bett zu werfen. Ich hatte mein Fenster offen gelassen, und es war schön, die Sommernacht über unsere braunen Körper fließen zu fühlen.
An diesem Morgen ist Marie geblieben, und ich habe ihr gesagt, wir würden zusammen zu Mittag essen. Ich bin Fleisch einkaufen gegangen. Als ich zurückkam, habe ich in Raymonds Zimmer eine Frauenstimme gehört. Etwas später hat der alte Salamano mit seinem Hund geschimpft, wir haben das Geräusch von Schuhsohlen und Krallen auf den hölzernen Treppenstufen gehört und dann: «Du Biest, du Aas», und sie sind auf die Straße hinausgegangen. Ich habe Marie die Geschichte des Alten erzählt, und sie hat gelacht. Sie trug einen meiner Schlafanzüge, dessen Ärmel sie
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