Der Fremde ohne Gesicht
überhaupt nicht reizte, war die Aussicht, mit Meadows fahren zu müssen. Ein Tag mit ihm würde nicht gerade der Brüller werden.
Sharman war hoch erfreut, als Sam sich schließlich dazu bereit erklärte, und erbot sich, sie hinterher zum Essen einzuladen. Insgeheim spekulierte sie boshaft, ob sie ihn dafür an einer Straßenecke erwarten musste, angetan nur mit einem knappen roten Kleid und Netzstrümpfen. Irgendwie war sie begierig darauf herauszufinden, warum ein Mann wie Sharman sich mit Prostituierten abgab.
Während sie darauf warteten, dass die Wärter sie hereinließen, studierte Sam die Gesichter der langen Schlange von Angehörigen und Freunden der Inhaftierten, die zu Besuch kamen. Wie weit waren wohl die Wege, die sie zurückgelegt hatten, und wie lange hatten sie gewartet? Sie waren es im Grunde, die leiden mussten, wenn ihre Lebensgefährten, Väter oder Söhne hinter Schloss und Riegel wanderten. Ob den Insassen je bewusst war, welchen Schmerz sie ihren Angehörigen und Freunden zufügten? Etliche der Besucher erwiderten ihre Blicke, viele voller Verachtung. Vermutlich hielten sie Sam für eine Polizistin. Sie sah zwar nicht wie eine aus, aber Meadows sah man den Bullen schon von weitem an, sodass sie aus der Sicht der Besucher vermutlich mitgefangen und mitgehangen war. Ein paar Augenblicke, nachdem Meadows geklingelt hatte, erschien ein Gefängniswärter in dunkler Uniform an der Tür und ließ sie ein.
Im Innern wirkte das Gefängnis noch düsterer als draußen und Sam hoffte, dass sie sich nicht lange hier aufhalten mussten. Nachdem sich Meadows in der Liste eingetragen hatte und sie durchsucht worden waren, brachte man sie entlang mehreren Gängen und Treppen hinauf zum Vernehmungsraum. Ihren Namen hatte Meadows weggelassen, als er die Liste ausfüllte. Er hatte ihr gesagt, dass er das versuchen würde, aber sie war überrascht, wie leicht es ihm gelungen war. Ein Zahnrädchen griff in das andere, überlegte sie.
Im Vernehmungsraum wurden sie bereits von Peter Appleyard erwartet. Er blickte nervös auf, als sie eintraten. »Wissen Sie, dieses Vorgehen ist wirklich höchst ungewöhnlich.«
Meadows nickte und bemühte sich, kompetente Gelassenheit auszustrahlen. »Das ist mir bewusst, Mr. Appleyard, aber wir tun dies im Interesse Ihres Klienten.«
Die Bemerkung beruhigte den Anwalt noch nicht. »Nun, warten wir’s ab. Ich werde nicht zögern, meinem Klienten zu raten, das Gespräch sofort abzubrechen, wenn ich der Ansicht bin, dass es seiner Sache schadet.«
Er wandte sich an Sam. »Es überrascht mich, dass Sie sich in dieser Sache engagieren, Dr. Ryan.«
»Ich bin überzeugt, dass unser Vorgehen nützlich und notwendig ist, um Gerechtigkeit walten zu lassen, Mr. Appleyard. Andernfalls, das kann ich Ihnen versichern, wäre ich gewiss nicht hier.«
Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte da so sicher sein. Aber ich fürchte, wir haben alle den Verstand verloren.«
Sam ging durch den Raum und setzte sich neben den besorgten Anwalt. »Wir stehen alle auf derselben Seite, Peter. Wir glauben, dass Mr. Ward unschuldig ist, und wir sind hier, um Beweise dafür zu finden.«
Plötzlich schaltete sich Meadows ein, der irgendwo hinter Sam stand. »Diese Vernehmung ist größtenteils inoffiziell und wird nicht protokolliert. Verstehen Sie? Ich bin nur hier, um ein paar elementare Fragen zu stellen und einige Unklarheiten zu beseitigen. Dies sind die einzigen Fragen, die aufgezeichnet werden. Bei allem, was darüber hinausgeht, werden Sie mir vertrauen müssen.«
Appleyard sah Sam an. Ihr wollte er ja gern vertrauen, schien sein Blick zu sagen, aber Meadows? Dem würde er nicht über den Weg trauen, wenn sein Leben davon abhinge. Schließlich rang er sich durch. »Okay, lassen Sie uns anfangen. Je eher ich hier wieder weg bin, desto besser.«
Meadows nickte dem Wärter zu, der sie in den Raum begleitet hatte. »Von uns aus kann’s losgehen, John.«
Seine Vertrautheit mit dem Wärter ließ ahnen, wie es ihm gelingen konnte, Leute ohne Eintrag in der Besucherliste in das Gefängnis hinein- und wieder hinauszuschmuggeln.
Als Ward das Zimmer betrat, fiel Sam auf, wie bleich und abgespannt er aussah. Die dunklen Ringe unter seinen Augen wurden durch die Blässe seiner Haut noch hervorgehoben. Er schien gealtert zu sein und sah gehetzt und ausgemergelt aus; kaum zu glauben, dass dies derselbe Mann sein sollte, den sie aus den Zeitungen kannte. Er wirkte wie ein Mann, der
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