Der Fremde ohne Gesicht
auf Knien bitten, das Rätsel für ihn zu lösen, und das war immerhin etwas.
Plötzlich drang Sams Stimme durch seine Gedanken.
»Wo sind eigentlich die Schnur und die Magazine gefunden worden?«
Meadows sah sie an und überlegte, ob er ihr antworten sollte. Schließlich stand sie auf der anderen Seite. Doch sie wusste sowieso schon genug, um ihn ans Messer zu liefern, also kam es darauf auch nicht mehr an. »In seinem Gartenschuppen.«
Sam machte ein überraschtes Gesicht. »Was, sowohl die Schnur als auch die Magazine?«
Er nickte.
»War der Schuppen verschlossen?«, hakte sie nach.
Er versuchte sich daran zu erinnern, doch es fiel ihm nicht mehr ein. »Keine Ahnung.«
»Dann hätte also jeder hineingehen und das Zeug dort hinlegen können. Falls der Schuppen nicht abgeschlossen war. Ich nehme an, auf einen Einbruch deutete nichts hin?«
»Nein.« Allmählich wurde Meadows neugierig, wohin all diese Fragen führen würden.
»Dann wäre es also möglich, dass jemand anders die Sachen dort deponiert hat?« Sie hörte sich schon an wie eine Strafverteidigerin.
»Möglich schon, aber es war nicht so. Vergessen Sie nicht die Fingerabdrücke auf der Tüte, in der sich die Magazine befanden. Sie stammten definitiv von ihm.«
»Wurden denn auch Fingerabdrücke auf den Magazinen selbst gefunden?«
»Nein, dazu war er zu clever. Aber die Hülle hat er vergessen. Ähnliche Dinge habe ich schon öfter erlebt.«
Sam nickte interessiert. »Lesen Sie ab und zu Frauenzeitschriften?«
Er verzog das Gesicht. »Sehe ich etwa aus wie ein Mann, der Frauenzeitschriften liest? Ich bitte Sie.«
Sam lächelte und zeigte ihm die Hülle, die er von ihrer Zeitschrift entfernt hatte. »Aber diese Hochglanzhülle ist voll mit Ihren Fingerabdrücken. Dann müssen Sie sie doch wohl lesen.«
Meadows sah sie an, zugleich beeindruckt und bestürzt. Falls sie jemals den Arztberuf aufgeben wollte, überlegte er, könnte eine großartige Anwältin aus ihr werden.
Nach drei Tagen fast ununterbrochener Arbeit war Peter Hudd endlich fertig. Es war in jeder Hinsicht ein ungewöhnliches Werk. Normalerweise baute er seine Rekonstruktionen auf dem echten Schädel auf, doch da das diesmal nicht möglich war, musste er sich auf seinen Tastsinn und sein Gedächtnis stützen. Während die Büste mehr und mehr Gestalt annahm, hielt er immer wieder inne, betastete den Ton mit den Fingern und versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie sich ihr Schädel angefühlt hatte. Sein einziges größeres Problem war eigentlich Fiona. Anfangs kam sie zu ihm und nörgelte ihm die Ohren voll, dann kam sie nicht mehr und nervte ihn stattdessen mit albernen Anrufen, bei denen sie ihm erzählte, mit wem sie zusammen war und was sie vielleicht später noch tun würden. Das waren natürlich alles nur Finten, so gut kannte er sie längst. Sie redete gern, aber sie ließ keine Taten folgen. Doch er ließ ihr ihren Spaß und tat so, als wäre er verärgert oder eifersüchtig. Das schien sie zufrieden zu stellen.
Er war selbst überrascht, wie viel Zeit und Energie er investiert hatte, um die Büste herzustellen. Er nahm sich kaum Zeit zum Essen oder zum Schlafen und arbeitete unentwegt, entschlossen, das Werk zu Ende zu bringen und zu sehen, wie das Mädchen in der Leichenhalle ausgesehen hatte. Zuerst hatte er gedacht, es ginge ihm darum, rechtzeitig für Dr. Ryan fertig zu werden, doch als er im Laufe der Zeit immer besessener von seiner Arbeit wurde, begriff er, dass er es in Wirklichkeit für sich selbst tat. Vielleicht hatte auch Fiona das gespürt. Ein bisschen jähzornig war sie öfter, aber im Moment verhielt sie sich ungewöhnlich. Normalerweise war sie viel gelassener. Vielleicht, überlegte er, war sie tatsächlich eifersüchtig auf seine Beziehung zu dem unbekannten Mädchen. Seit sie zusammen waren, hatte er kaum eine andere Frau eines Blickes gewürdigt. Doch jetzt gab es eine andere Frau in seinem Leben – zumindest Teile von einer anderen Frau – und sie lenkte seine ganze Aufmerksamkeit von Fiona ab. Doch er wollte sie nicht verlieren. Später würde er alles wieder gutmachen. Jetzt, da die Büste fertig war, würde er wieder mehr Zeit für Fiona haben und das Mädchen würde zurück in Dr. Ryans Leichenhalle verbannt werden, um dort sein Dasein zu fristen, bis sie herausgefunden hatten, wer es gewesen war.
Noch ein paar vorsichtige Striche mit dem Messer, dann war sie fertig. Hudd trat zurück und begutachtete seine Arbeit. Er umkreiste die
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