Der fremde Pharao
Blick zurückzuwerfen.
Die Begegnung hatte bei Si-Amun ein unbestimmtes Angstgefühl ausgelöst. Töte Mersu, aber lebe du weiter, forderte seine Seele. Tani verändert sich, aber wer außer dir hat das bemerkt? Die Familie braucht dich. Waset braucht dich! Er stöhnte, wusste, dass er in Versuchung war, und gleich darauf stand er vor Mersus Tür.
Der Wachposten salutierte. Si-Amun schenkte ihm ein Lächeln. »Eine ruhige Nacht, Soldat?«, fragte er. Der Speerschaft des Mannes pochte kurz auf den Boden.
»So ist es, Fürst«, antwortete er.
»Und der Gefangene?«
»Hat vor zwei Stunden Suppe und Brot gegessen. General Hor-Aha ist gegen Sonnenuntergang da gewesen und hat sich vergewissert, dass alles in Ordnung ist, und Uni hat ein Binsenbündel geschickt, damit der Gefangene nicht müßig herumsitzt.« Trotz seines Gemütszustandes musste Si-Amun bei dem Gedanken an den stolzen Haushofmeister lächeln, der jetzt knietief in Binsen auf dem Boden saß.
»Gut. Ich gehe hinein. Du bleibst auf deinem Posten und reagierst auf nichts, was du drinnen hörst. Hast du mich verstanden?« Der Mann nickte.
»Ich bin der Diener meines Gebieters.« Si-Amun legte ihm flüchtig die Hand auf die Schulter und trat ein.
Der Wachposten schloss die Tür hinter ihm, und bei dem Geräusch kam Si-Amun alles unwirklich vor. Er bückte sich und stellte den Alabasterkrug auf den unebenen Boden neben sich. Er hatte das Gefühl, dass jeder Muskel feierlich den Anweisungen eines unbekannten, religiösen, jedoch geheimnisvollen Rituals gehorchte. Als er sich aufrichtete, wäre er nicht überrascht gewesen, wenn er plötzlich in priesterliches Leinen und mit Seths Maske angetan gewesen wäre. Er widerstand dem Drang, sein Gesicht zu berühren.
Mersu lag auf seinem Lager, hatte die Beine übergeschlagen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. In einer Ecke des schlecht beleuchteten Zimmers lag ein unordentlicher Binsenhaufen. Die Reste seiner einfachen Mahlzeit standen auf einem Tablett auf dem Boden. Beim Geräusch der sich öffnenden Tür hatte er aufgeblickt, und als er sah, wer es war, kam er langsam hoch. Dann stand er da mit locker herabhängenden Armen, und Si-Amun, der ihn eingehend musterte, bemerkte zum ersten Mal zunehmende Unsicherheit auf Mersus undurchschaubarer Miene, als er nämlich das Messer sah. Dieses Mal fuhr sich Si-Amun tatsächlich mit der Hand über die Augen in der Gewissheit, Seths graue, pelzige Schnauze und scharfe Reißzähne zu fühlen, denn bei Mersus Ausdruck jauchzte er innerlich und verspürte die kalte Erregung des Scharfrichters. »Ja, Mersu«, sagte er mit ausdrucksloser und gefasster Stimme. »Ich habe beschlossen, dass weder du noch ich die Qualen eines Prozesses durchmachen. Du hast nicht geglaubt, dass ich den Mut dazu aufbringen würde, nicht wahr? Das hier ist dein Urteil«, damit zeigte er auf das Messer, »und das da«, er zeigte auf den Krug, »ist meins. Falls du unvorhergesehenerweise das Wiegen des Herzens überstehen solltest, mach dir keine Hoffnungen, dass du bei Osiris willkommen bist, denn ich habe eine Rolle an meine Familie geschrieben, und wenn sie die gelesen hat, wird dein Körper nicht einbalsamiert. Meiner vielleicht auch nicht.« Mersu war blass geworden. Si-Amun sah, wie er zurückwich, bis er das Lager hinter seinen Knien spürte, dessen Kante ihn aufrecht hielt. »Ob dein Name irgendwo überlebt?«, fuhr er fort. »Wird der Setiu-Gott Sutech dich wohl erretten und für deine Treue zu seinem Günstling Apophis belohnen?« Das war jetzt rachsüchtig, denn die bittere Galle in seiner Seele stieg ihm in hasserfüllten Worten auf die Zunge, doch er war ein König, er war ein Fürst, und mit übermenschlicher Anstrengung ermahnte er sich, dass man Mersu seinen Mangel an Tugend nicht vorwerfen konnte. »Möchtest du noch etwas sagen, ehe ich dich umbringe?« Mersu schluckte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schien Kräfte zu sammeln. Sein Gesicht blieb so grau wie das einer Leiche, doch er stellte sich aufrechter hin.
»Es gibt nichts zu sagen«, krächzte er. »Vielleicht ist es besser so, Fürst. Mir wird die Erniedrigung einer öffentlichen Hinrichtung erspart und dir die Scham und Kritik deiner Familie. Was das Schicksal meines Kas angeht, so sind die Götter Ägyptens nicht mehr so mächtig wie die Setiu-Gottheiten. Ich werde überleben.« Er brachte ein Achselzucken zustande, eine Geste, die Mut ausdrücken sollte, Si-Amun aber übertrieben vorkam. »Ich bin
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