Der fremde Tibeter
einen entsprechenden Schriftverkehr gegeben.«
»Und?«
»Auf einmal Rauschen und Knacken, und dann war die Leitung tot.« Yeshe hielt inne und zog ein Blatt Papier unter seinem Block hervor. »Also bin ich ins Büro der Krankenhausverwaltung gegangen und habe gesagt, ich müsse die Akten der letzten paar Monate überprüfen. Ich habe das hier gefunden; es ist sechs Wochen alt.« Er reichte Shan das Blatt.
Es war ein Brief von Dr. Sung an das Büro in Shanghai. Sie fragte an, ob die Firma ihr ein tragbares Röntgengerät zur Ansicht überlassen würde. Sie wollte den Apparat nach dreißig Tagen zurückgeben, falls er sich als nicht geeignet für die hiesigen Anforderungen erweisen sollte.
Shan faltete den Brief zusammen und legte ihn in seinen Notizblock. Dann machte er sich auf den Weg zum Ausgang. Nach wenigen Schritten fing er an zu laufen.
Madame Ko führte sie in ein Restaurant neben dem Gebäude der Bezirksverwaltung. »Sie warten am besten«, sagte sie und wies auf einen freien Tisch im hinteren Bereich des Raums. Die Tür neben dem Tisch wurde von einem Kellner bewacht, der mit verschränkten Armen ein Tablett vor der Brust hielt.
Sergeant Feng bestellte Nudeln, und Yeshe entschied sich für Kohlsuppe. Shan nippte ungeduldig an seinem Tee, stand nach zehn Minuten auf und ging zur Tür hinaus. Madame Ko stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn zurück. »Keine Störungen«, tadelte sie ihn und sah dann, wie entschlossen er war. »Lassen Sie mich einen Versuch unternehmen«, seufzte sie und verschwand vorsichtig hinter der Tür. Kurz darauf kam ein halbes Dutzend Armeeoffiziere aus Tans Büro, und Madame Ko bat ihn hinein.
Der Raum stank nach Zigaretten, Zwiebeln und gebratenem Fleisch. Tan saß allein an einem runden Tisch und rauchte, während das Personal das Geschirr abräumte. »Na, wunderbar«, sagte er und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Weißt du, wie ich den Vormittag verbracht habe? Die Öffentliche Sicherheit hat mir eine Standpauke gehalten. Man wird vielleicht beschließen, eine Zerrüttung der zivilen Ordnung zu melden. Man wirft mir vor, ich hätte mich widerrechtlich in die Ermittlungen eingeschaltet. Man hat festgestellt, daß sich im Lager Jadefrühling während der letzten fünfzehn Jahre zwei Sicherheitsverstöße ereignet haben, und zwar alle beide in dieser Woche. Man behauptet, einer meiner Zellenblöcke habe sich in ein verdammtes gompa verwandelt. Man hat sogar angedeutet, es bestehe ein Spionageverdacht. Was weißt du darüber?« Er zog wieder an der Zigarette, atmete langsam aus und musterte Shan durch die Rauchwolke hindurch. »Sie haben außerdem gesagt, ihre Einheiten bei der 404ten würden morgen mit den durchgreifenden Maßnahmen beginnen.«
Shan versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschrocken er war. »Ankläger Jao wurde von jemandem ermordet, den er kannte«, verkündete er. »Einem Kollegen.
Einem Freund.«
Tan zündete sich eine neue Zigarette am Stummel der ersten an und ließ Shan dabei nicht aus den Augen. »Du hast endlich einen Beweis?«
»An jenem Abend ist ein Bote mit einem Zettel gekommen.« Shan erläuterte, was im Restaurant geschehen war, ohne die Identität des Boten zu enthüllen. Tan würde niemals dem Wort eines purba glauben, wenn die Aussage eines Soldaten dagegenstand.
»Das beweist gar nichts.«
»Warum hat der Bote den Zettel nicht Jaos Fahrer gegeben? Jeder kannte Balti. Jeder richtet eventuelle Nachrichten den Fahrern aus. Das ist so üblich. Balti hat draußen im Wagen gewartet. Sie wollten direkt danach zum Flughafen fahren.«
»Vielleicht hat dieser Bote Balti nicht gekannt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Dann werden wir Sungpo natürlich sofort auf freien Fuß setzen«, erwiderte Tan mit beißendem Spott.
»Und selbst falls er Balti tatsächlich nicht gekannt hätte, würden die Kellner ihn zum Wagen geschickt haben. Einer der Kellner hat sich ihm auch in den Weg gestellt, weil er glaubte, in Jaos Interesse zu handeln. Doch Jao hatte bereits mit etwas gerechnet oder sich in diesem Moment daran erinnert. Es ging um eine Angelegenheit, die seine sofortige Aufmerksamkeit erforderte. Also hat er mit dem Boten gesprochen. Außer Hörweite des Kellners. Außer Hörweite seines Tisches, an dem die Amerikanerin saß. Außer Hörweite v)n Balti. Und dann ist ihm etwas derart Dringliches mitgeteilt worden, daß er trotz seiner alles andere als spontanen Wesensart sofort seine Pläne geändert hat.«
»Er kannte
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