Der fremde Tibeter
Sungpo. Vielleicht hat Sungpo die Nachricht geschickt«, sagte Tan.
»Sungpo war in seiner Höhle.«
»Nein. Sungpo war auf der Südklaue, um dort einen Mord zu begehen.«
»Es gibt Zeugen dafür, daß Sungpo seine Höhle nie verlassen hat.«
»Zeugen?«
»Dieser Mann namens Jigme. Der Mönch Je. Beide haben entsprechende Aussagen gemacht.«
»Eine gompa-Waise und ein seniler alter Mann.«
»Mal angenommen, es war Sungpo, der diese Botschaft geschickt hat«, sagte Shan. »Ankläger Jao würde doch niemals allein und ohne Schutz an einen abgelegenen Ort fahren, um sich mit einem Mann zu treffen, den er einst hinter Gitter gebracht hat. Kein Mönch hätte Jao jemals zu einem solchen Verhalten bewegen können. Immerhin wollte der Ankläger auf keinen Fall sein Flugzeug verpassen.«
»Also hat jemand Sungpo geholfen. Jemand hat gelogen.«
»Richtig. Jemand, der Jaos Vertrauen besaß, hat ihn mit Informationen gelockt, die für die Reise des Anklägers wichtig waren und ihm bei seinen geheimen Ermittlungen behilflich sein würden. Informationen, die er in Peking verwenden konnte. Wir müssen mehr darüber herausfinden.«
»Er hatte in Peking nichts Besonderes vor. Du hast Miss Lihuas Fax doch gesehen. Er war bloß auf der Durchreise nach Dahan.« Tan schaute auf die Asche seiner Zigarette, die sich auf der Tischdecke zu einem kleinen Häuflein ansammelte.
»Warum sollte er dann einen Tag Aufenthalt dort einplanen?«
»Das habe ich doch schon gesagt. Um vielleicht einzukaufen oder wegen der Familie.«
»Oder wegen etwas im Zusammenhang mit einer Bambusbrücke.«
»Bambusbrücke?« »Das stand auf einem Zettel in seiner Jacke.«
»Welcher Jacke?«
»Ich habe sein Jackett gefunden.«
Tan wirkte plötzlich ganz aufgeregt. »Du hast den khampa gefunden, nicht wahr? Dem stellvertretenden Ankläger hast du zwar das Gegenteil erzählt, aber in Wahrheit hast du ihn gefunden.«
»Ich bin nach Kham gefahren, und ich habe das Jackett des Anklägers gefunden. Mehr konnten wir nicht erreichen. Balti hatte nichts damit zu tun.«
Tan lächelte billigend. »Ganz schön reife Leistung, mitten in der Wildnis eine einsame Jacke aufzustöbern.« Er drückte seine Zigarette aus und blickte dann ernster wieder auf. »Wir haben Erkundigungen über deinen Leutnant Chang eingezogen.«
»Hat jemand seine Leiche geborgen?«
»Das ist nicht mein Problem.«
Noch ein Himmelsbegräbnis, dachte Shan. »Aber er war Angehöriger der Armee. Einer Ihrer Leute.«
»Er hat nicht zur Armee gehört. Nicht wirklich.«
»Aber er war bei der 404ten.«
Tan hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu veranlassen. »Er hat fünfzehn Jahre lang dem Büro für Öffentliche Sicherheit angehört. Erst vor einem Jahr wurde er zur Armee versetzt.«
»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Shan. Niemand verließ die Elitetruppe der Kriecher, um der Armee beizutreten.
Tan zuckte die Achseln. »Es sei denn, er ist nicht freiwillig gegangen.«
»Und Sie haben nichts davon gewußt?«
»Die Versetzung wurde der Armee erst zwei Tage vor seinem Eintreffen gemeldet.«
»Es könnte noch etwas anderes dahinterstecken«, gab Shan zu bedenken. »Vielleicht hat er auch weiterhin für einen Angehörigen der Öffentlichen Sicherheit gearbeitet.«
»Ohne mein Wissen?«
Shan sah ihn nur an.
Tan preßte die Lippen zusammen und dachte eine Weile darüber nach. »Diese Schweinehunde«, stieß er wütend hervor.
»Wo hat Leutnant Chang vorher Dienst getan?«
»Südlich von hier, in der Grenzregion. Unter Major Yang.«
Also hatte er doch einen Namen, dachte Shan. »Was wissen Sie über diesen Major Yang?«
Tan zuckte die Achseln. »Hart wie ein Fels. Berüchtigt für seine Erfolge bei der Schmugglerjagd. Macht keine Gefangenen. Wird eines Tages General sein.«
»Weshalb, Oberst, sollte ein solch hochgeschätzter Offizier sich die Mühe machen, die Verhaftung Sungpos persönlich vorzunehmen?«
Tans Stirnrunzeln verstärkte sich. »Ist das sicher?«
Shan nickte.
»Ein Mann wie er geht, wohin er will«, sagte Tan und wirkte dabei nicht überzeugt. »Er ist mir keine Rechenschaft schuldig, sondern gehört zur Öffentlichen Sicherheit. Falls er dem Justizministerium behilflich sein möchte, kann ich ihn nicht davon abhalten.«
»Falls ich als leitender Ermittler für die Öffentliche Sicherheit tätig wäre, würde ich wohl kaum in einem leuchtendroten Wagen quer durch den Bezirk fahren oder mit einem alles andere als unauffälligen Helikopter einen kleinen Ausflug aufs
Weitere Kostenlose Bücher