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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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nicht erwähnt.«
    »Offenbar gibt es Dinge, die ich Ihnen leider nicht mitteilen darf.«
    »Sie haben mich also hergebracht, um mir zu erzählen, daß Sie mir gar nichts erzählen werden.«
    Li trat wieder an Shans Seite und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich mag Ihren Sinn für Humor. Man merkt, daß Sie aus Peking stammen. Eines Tages, wer weiß? Sie könnten gut zu uns passen.« Er ging um Shan herum. »Ich habe Sie hergebracht, um Sie zu retten. Der Major und ich suchen nach einer Möglichkeit, großzügig zu sein. Es hat schon zu viele Opfer gegeben, und es besteht wirklich kein Grund dafür, Ihnen weiterhin weh zu tun. Falls Minister Qin aus Peking Sie im lao gai sehen will, ist das allein eine Angelegenheit zwischen Ihnen und ihm. Doch Minister Qin ist sehr alt. Eines Tages bekommen Sie vielleicht eine zweite Chance. Ich kann sehen, daß Sie ein intelligenter Mann sind. Irgendwann werden Sie für das Volk wieder von Nutzen sein. Aber nicht, wenn Sie sich an Oberst Tan halten. Er ist sehr gefährlich.«
    »Ich stelle für ihn keine Bedrohung da.«
    Li musterte seine Zigarette. »So habe ich das nicht gemeint. Er manipuliert Sie. Er glaubt, er könne sich über den offiziellen Dienstweg hinwegsetzen. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum er das Büro des Anklägers meidet?«
    Shan antwortete nicht.
    »Oder warum er Sie mit unzuverlässigen Personen arbeiten läßt?«
    »Unzuverlässigen Personen?«
    »Diskreditierten Quellen. Wie Dr. Sung.«
    »Ich respektiere Dr. Sungs medizinisches Fachwissen.«
    Li zuckte die Achseln. »Aber genau das meine ich ja. Man hat Ihnen nichts von Dr. Sungs Problemen und Vorurteilen erzählt. Die turnusgemäße Zurückversetzung nach Hause wurde ihr wegen schwerer Pflichtversäumnisse verwehrt. Sie hat auf eigenen Entschluß für eine Woche ihren Posten verlassen, um sich um unbefugte Patienten zu kümmern.«
    »Unbefugte Patienten?«
    »Eine Schule im Hochgebirge. Sehr abgelegen. Niemand in Lhasa hatte je davon gehört. Die Kinder sind an irgendwas gestorben. Da oben gibt es Krankheiten, die im Rest der Welt schon längst ausgerottet wurden.«
    »Die Ärztin wurde also dafür bestraft, daß sie sterbenden Kindern geholfen hat?«
    »Darum geht es nicht. Für solche Fälle ist vorgeschrieben, daß die Eltern ihre Kinder in das Krankenhaus zu bringen haben. Dr. Sung hat eine Reihe wichtiger Patienten in der Klinik zurückgelassen. Manche davon waren Parteimitglieder. Und jetzt wird sie nicht nach Hause zurückkehren.«
    »Damit ist Dr. Sungs Karriere praktisch beendet.« Shan war versucht zu fragen, wann die Ärztin diesen unüberlegten Fehler begangen hatte. Man hatte sie zunächst zum Abendessen eingeladen, ihr aber später die Mitgliedschaft im Bei Da-Verband verweigert. Er erinnerte sich daran, wie nervös sie vor ihm die Parteilehrsätze über die Zurückgebliebenheit der tibetischen Minderheit und die Vorgehensweise bei der Behandlung unproduktiver Patienten in den Bergen heruntergebetet hatte. Diese Worte waren ihr bei einer tamzing- Sitzung eingebleut worden.
    »Ich sehe, Sie verstehen«, sagte Li mit gekünstelter Dankbarkeit. »Sie bringen mich in eine peinliche Lage, Genosse Shan. Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen vertraue, nicht wahr?«
    Shan erwiderte nichts.
    »Das hier ist höchst unkonventionell. Das Büro des Anklägers im vertraulichen Gespräch mit einem überführten Kriminellen.«
    »Ich hatte nie eine Verhandlung, falls das hilft.«
    Li hob die Augenbrauen und nickte langsam. »Ja, Genosse, guter Hinweis. Kein Verurteilter, bloß ein Häftling.« Er zündete sich eine zweite Zigarette am Stummel der ersten an. »Gut. Sie sollten davon erfahren. Wir führen eine Korruptionsuntersuchung durch. Die größte, die es je in Tibet gegeben hat. Wir waren beinahe soweit. Jao wollte seine Erkenntnisse demnächst bekanntgeben. Bald können wir zuschlagen. Aber Sie werden noch dafür sorgen, daß die Schuldigen die Flucht ergreifen.«
    »Demnach wurde Jao von einem Verdächtigen in diesem Korruptionsfall ermordet?« fragte Shan. Das wäre eine sehr ausgewogene Lösung. Genau die Art von Erklärung, die dem Justizministerium gefallen würde.
    »Nicht genau. Es ist nur so, daß dieser gesellschaftsfeindliche Mönch Sungpo nicht wußte, was für Auswirkungen seine Tat nach sich ziehen würde. Mit Jaos Tod wurden vorerst alle Anstrengungen zunichte gemacht. Wir mußten den Fall ganz neu aufbauen. Immerhin schulden wir es Jao, die Sache zum Abschluß zu bringen.

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