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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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vorbeigekommen und hat die Zeremonie für ein Himmelsbegräbnis begonnen, wurde dann aber gestört.«
    »Wodurch?«
    »Keine Ahnung. Durch die Vögel.«
    »Die fliegen nachts nicht. Und ich habe noch keinen Geier gesehen, der groß genug gewesen wäre, um einen Schädel wegzuschleppen.« Sie zog ein Stück Papier vom Klemmbrett. »Sie müssen der Narr gewesen sein, der mir das hier geschickt hat«, sagte sie. Es war das Unfallberichtsformular, das auf ihre Unterschrift wartete.
    »Der Oberst würde es gern sehen, wenn Sie das einfach nur unterzeichneten.«
    »Ich arbeite nicht für den Oberst.«
    »Das habe ich auch zu ihm gesagt.«
    »Und?«
    »Bei einem Mann wie dem Oberst ist das ein eher heikler Punkt.«
    Sung warf ihm einen letzten wütenden, beinahe aggressiven Blick zu und riß das Formular dann schweigend in der Mitte durch. »Und wie heikel ist das?« Sie ließ die Stücke auf die nackte Leiche fallen und verließ den Raum.
    Jilin der Mörder war offenbar stolz darauf, zum neuen Vorarbeiter der 404ten ernannt worden zu sein. Er ragte wie ein Riese drohend an der Spitze der Kolonne auf und hieb mit seinem Vorschlaghammer auf die Felsen ein. Hin und wieder hielt er kurz inne und wandte sich mit hämischem Gesichtsausdruck zu den kleinen Gruppen tibetischer Häftlinge um, die unterhalb von ihm auf dem Hang saßen. Shan musterte die anderen, ein Dutzend Chinesen und moslemische Uiguren, die normalerweise nicht zu den Bauarbeitern gehörten. Zhong hatte das Küchenpersonal zur Südklaue geschickt.
    Shan entdeckte Choje, der kurz vor der Spitze im Lotussitz mit geschlossenen Augen im Zentrum eines Kreises aus Mönchen saß. Beabsichtigt war, Choje vor den drohenden Übergriffen der Wachen zu schützen. Letzten Endes würde es nur dazu führen, daß die Wachen noch viel wütender waren, wenn sie ihn erreichten.
    Momentan allerdings saßen die Wachposten um die Lastwagen herum, rauchten und tranken Tee, den sie sich über einem offenen Holzfeuer kochten. Sie behielten nicht etwa die Häftlinge im Blick, sondern richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Straße, die aus dem Tal hinaufführte.
    Jilins fröhliche Miene verschwand, als er Shan sah. »Es heißt, du seist jetzt ein Kalfaktor«, sagte er verärgert und verlieh dem Satz mit einem Schlag des Hammers Nachdruck.
    »Nur für ein paar Tage. Ich komme zurück.«
    »Du verpaßt ja alles. Dreifache Rationen, wenn du arbeitest. Die werden den verdammten Heuschrecken die Flügel stutzen. Der Stall wird aus allen Nähten platzen. Wir werden Helden sein.« Heuschrecken. Eine verächtliche Bezeichnung für die tibetischen Einheimischen. Wegen des eintönig summenden Geräusches ihrer Mantras.
    Shan musterte die vier kleinen Steinhaufen, mit denen man den Fundort der Leiche markiert hatte. Langsam umrundete er die Stelle und fertigte auf seinem Block eine Zeichnung davon an.
    Sung hatte recht. Genau hier war es passiert. Hier hatte der Mörder sein Opfer abgeschlachtet. Er hatte den Mann getötet und den Inhalt seiner Taschen über den Rand der Klippe geworfen. Aber wieso hatte er die Hemdtasche unter dem Pullover ausgelassen, in der das amerikanische Geld steckte? Weil seine Hände so blutig waren und das weiße Hemd so sauber, beantwortete Shan sich die Frage.
    »Warum ist er erst den langen Weg aus der Stadt hergekommen und hat dann die Leiche nicht in den Abgrund geworfen? Man hätte sie nie gefunden.« Die Frage kam von hinten. Yeshe war Shan den Abhang hinaufgefolgt. Das war das erste Mal, daß der Tibeter Interesse an ihrem Auftrag erkennen ließ.
    »Die Leiche sollte gefunden werden.« Shan kniete sich hin und schob die restlichen Steine von dem rostfarbenen Fleck.
    »Weshalb dann Steine darüber aufschichten?«
    Shan drehte sich um und sah erst zu Yeshe und dann zu den Mönchen, die ihn inzwischen nervös beobachteten. Jungpos kamen nur nachts heraus. Am Tag jedoch versteckten die hungrigen Geister sich in kleinen Felsspalten oder unter Steinen.
    »Ansonsten hätten die Wachen den Toten vielleicht schon aus einiger Entfernung bemerkt.«
    »Aber sie haben ihn doch trotzdem entdeckt«, wandte Yeshe ein.
    »Nein. Zuerst haben ihn die Häftlinge gefunden. Die Tibeter.«
    Shan ließ den beunruhigten Yeshe neben den Steinhaufen stehen und ging zu Jilin. »Ich brauche deine Hilfe. Du sollst mich über die Kante hinablassen.«
    Jilin ließ den Hammer sinken. »Du hast wohl den Verstand verloren.«
    Shan wiederholte die Bitte. »Nur für ein paar Sekunden. Da drüben.« Er

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