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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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wies mit ausgestrecktem Finger in die Richtung. »Halt mich an den Knöcheln fest.«
    Jilin folgte Shan gemächlich zur Kante und grinste einfältig. »Hundertfünfzig Meter. Jede Menge Zeit zum Nachdenken, bevor du aufschlägst. Und dann ergeht es dir wie einer Melone, die man mit einer Kanone abgeschossen hat.«
    »Nur ein paar Sekunden, dann holst du mich wieder hoch.«
    »Warum?«
    »Wegen des Goldes.«
    »Blödsinn«, stieß Jilin hervor. Dann allerdings beugte er sich mit einem mißtrauischen Seitenblick über den Rand. »Verdammt«, sagte er und schaute überrascht auf. »Verdammt«, wiederholte er, kam aber sogleich auf einen anderen Gedanken. »Ich brauche dich nicht.«
    »Doch, du brauchst mich. Du kannst es von hier oben nicht erreichen. Wem vertraust du so weit, daß er dich festhalten soll?«
    Jilin schien plötzlich zu verstehen. »Und warum vertraust du mir?«
    »Weil ich dir das Gold geben werde. Ich schaue es mir genau an, und dann gebe ich es dir.« Das einzig Verläßliche an Jilin war seine Habgier.
    Kurz darauf hing Shan kopfüber an seinen Knöcheln über dem Abgrund. Sein Bleistift fiel ihm aus der Tasche und stürzte wirbelnd ins Leere. Er schloß die Augen, als der lachende Jilin ihn wie die Marionette eines Kindes ruckartig auf und ab hüpfen ließ. Aber als er sie wieder öffnete, lag das Feuerzeug direkt vor ihm.
    Einen Moment später befand er sich wieder oben. Das Feuerzeug stammte aus westlicher Fertigung, war jedoch mit einem eingravierten chinesischen Ideogramm verziert, das für ein langes Leben stand. Shan hatte solche Feuerzeuge schon zuvor gesehen; sie wurden oft bei Parteitreffen als Andenken verschenkt. Er hauchte es an, so daß die Oberfläche beschlug. Keine Fingerabdrücke.
    »Gib es mir«, knurrte Jilin. Er behielt die Wachen im Auge.
    Shan schloß die Finger darum. »Sicher. Im Tausch gegen etwas anderes.«
    Jilins Blick flammte wütend auf. Er hob die Faust. »Ich reiß dich in Stücke.«
    »Du hast dem Toten etwas abgenommen. Er hatte es in der Hand. Das will ich haben.«
    Jilin schien darüber nachzudenken, ob ihm genug Zeit bleiben würde, das Feuerzeug zu schnappen, wenn er Shan über die Kante stieß.
    Shan trat aus seiner Reichweite. »Ich glaube nicht, daß es wertvoll war«, sagte Shan. »Dies hier hingegen..« Er entzündete die Flamme. »Schau nur!« Er hob das Feuerzeug und erhöhte dadurch das Risiko, daß die Wachen es bemerkten.
    Jilin griff unverzüglich in seine Tasche und holte eine kleine Scheibe aus mattiertem Metall hervor. Er ließ sie in Shans Handfläche fallen und griff nach dem Feuerzeug. Shan hielt es fest. »Eine Frage noch.«
    Jilin knurrte wütend und schaute den Abhang hinunter. So gern er Shan jetzt auch zerquetschen würde, das leiseste Anzeichen eines Kampfes würde die Wachen auf den Plan rufen.
    »Deine professionelle Meinung.«
    »Professionell?«
    »Als Mörder.«
    Jilins Brust schwoll vor Stolz. Auch sein Leben hatte maßgebliche Momente. Sein Griff lockerte sich.
    »Warum hier?« fragte Shan. »Warum so weit außerhalb der Stadt, um dann die Leiche so auffällig zurückzulassen?«
    Eine beunruhigende Sehnsucht zeichnete sich auf Jilins Gesicht ab. »Das Publikum.«
    »Publikum?«
    »Jemand hat mir einmal von einem Baum erzählt, der in den Bergen umstürzt. Er verursacht kein Geräusch, wenn niemand da ist, der ihn hört. Ein Mord, den niemand zu würdigen weiß? Was hätte der für einen Sinn? Ein guter Mord braucht ein Publikum.«
    »Die meisten Mörder, die ich kenne, bevorzugen die Abgeschiedenheit.«
    »Ich meine nicht Zeugen, sondern diejenigen, von denen die Tat entdeckt wird. Ohne Publikum kann es kein Verzeihen geben.« Er sagte die Worte sorgfältig auf, als hätte man sie ihm während der tamzing-Sitzungen eingetrichtert.
    Er hatte recht, erkannte Shan. Die Leiche war deswegen von den Häftlingen entdeckt worden, weil der Mörder genau das beabsichtigt hatte. Er hielt inne und sah Jilin in die wild funkelnden Augen. Dann ließ er das Feuerzeug los und musterte die Scheibe. Sie war nach außen gewölbt und maß fünf Zentimeter im Durchmesser. Kleine Schlitze am oberen und unteren Rand deuteten darauf hin, daß hier ein Riemen eingefädelt werden sollte und die Scheibe daher als Verzierung gedacht war. Am Rand verlief eine tibetische Inschrift, deren altertümliche Buchstaben Shan nicht entziffern konnte. In der Mitte befand sich das stilisierte Abbild eines Pferdekopfes. Der Kopf hatte Fangzähne.
    Als Shan sich Choje

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