Der fremde Tibeter
totenähnliche Stille über dem Lager. Kein Windhauch störte die frostige, frische Luft. Von oben ertönte der einsame Schrei eines einzelnen Ziegenmelkers.
Sie blieben am Tor stehen. Feng war noch immer unschlüssig. Von der Felswand hallte ein schwaches Klirren wider, das weit entfernte Klimpern von Metall auf Metall. Sie lauschten einen Moment und hörten noch ein anderes Geräusch, ein leises metallisches Rattern. Feng erkannte es als erster. Er stieß Shan durch das Tor, schloß es ab und lief auf das Unterkunftsgebäude der Wachen zu. Der 404ten stand die nächste Stufe der Bestrafung unmittelbar bevor.
Shan bot Choje den letzten momo an.
Der Lama lächelte. »Du arbeitest härter als wir anderen. Du brauchst dein Essen selbst.«
»Ich habe keinen Appetit.«
»Zwanzig Rosenkränze für die Lüge«, sagte Choje gutmütig und legte den momo zwischen die Altarmarkierungen auf den Boden. Der khampa sprang vor, kniete nieder und verbeugte sich, bis seine Stirn den Boden berührte. Choje wirkte überrascht. Er nickte, und der khampa stopfte sich den Kloß in den Mund. Er stand auf und verneigte sich vor Choje. Dann hockte er sich neben die Tür. Der katzengleiche khampa war der neue Wächter.
Plötzlich wurde Shan klar, daß die anderen Gefangenen nicht mit ihren Gebetsketten beschäftigt waren. Sie saßen über ihre Betten gebeugt und schrieben auf die Rückseiten von Etiketten oder auf den Rand der seltenen Zeitungen, die manchmal von der Freundschaftsvereinigung mitgebracht wurden. Ein paar der Männer schrieben mit Bleistiftstummeln. Die meisten benutzten kleine Stücke Holzkohle.
»Rinpoche«, sagte Shan. »Sie sind eingetroffen. Bis morgen früh werden sie die Wachen abgelöst haben.«
Choje nickte langsam. »Diese Männer - tut mir leid, wie ist das Wort, mit dem die Truppen der Öffentlichen Sicherheit so häufig bezeichnet werden?«
»Kriecher.«
Choje lächelte belustigt. »Diese Kriecher«, fuhr er fort, »sind nicht unser Problem. Sie sind das Problem des Direktors.«
»Man hat den Toten identifiziert«, verkündete Shan. Mehrere der Priester blickten auf. Er schaute sich um, während er sprach. »Sein Name war Jao Xengding.«
Schlagartig senkte sich eisiges Schweigen über die Hütte.
Chojes Hände formten ein mudra. Es war eine Anrufung des mitfühlenden Buddhas. »Ich sorge mich um seine Seele.«
»Möge er in der Hölle verrotten«, ertönte eine Stimme aus dem Schatten.
Choje blickte tadelnd auf und wandte sich dann seufzend wieder an Shan. »Ihm steht ein schwieriger Übergang bevor.«
Trinle meldete sich unvermutet zu Wort. »Seine Taten werden ihm zu schaffen machen. Und die gewaltsamen Umstände seines Todes. Er konnte nicht angemessen darauf vorbereitet sein.«
»Er hat viele Leute ins Gefängnis geschickt«, warf Shan ein.
Trinle sah ihn an. »Er muß von diesem Berg verschwinden.«
Shan öffnete den Mund, um seinen Freund zu berichtigen, aber dann begriff er, daß nicht von Jaos Körper die Rede war.
»Wir werden für ihn beten«, sagte Choje. »Solange seine Seele den Übergang noch nicht geschafft hat, müssen wir beten.«
Solange seine Seele den Übergang noch nicht geschafft hat, wird er auch weiterhin die 404te bestrafen, dachte Shan.
Ein Mönch brachte eines der Etiketten und legte es Choje zur Begutachtung vor. Er musterte es und sprach leise mit dem Mann, der daraufhin den Fetzen zurück zu seinem Bett mitnahm und wieder daran zu arbeiten begann.
In diesem Moment sah Shan den alten Choje wieder so vor sich wie bei ihrem ersten Treffen: Shan kniete im Schlamm, und Choje kam quer über den Platz auf ihn zu, ohne die Wachen zu beachten. Er wirkte so heiter und gelassen, als würde er über eine Wiese schlendern, um einen verletzten Vogel zu retten.
Shan war völlig am Boden zerstört, als die Aufseher ihn zum erstenmal ins Lager der 404ten brachten. Drei Monate Verhöre, verbunden mit einer politischen Therapie, die rund um die Uhr dauerte, hatten ihn physisch und mental zerrüttet. Die Öffentliche Sicherheit hatte ihn am Ende seiner letzten Untersuchung abgefangen, unmittelbar bevor er einen überaus speziellen Bericht an den Staatsrat abschicken wollte, anstatt an seinen offiziellen Vorgesetzten, den Wirtschaftsminister. Anfangs hatten sie ihn einfach nur zusammengeschlagen, bis ein Arzt der Öffentlichen Sicherheit Bedenken wegen eventueller Hirnschäden anmeldete. Dann hatten sie Bambussplitter benutzt, aber diese Methode hatte solch bestialische Schmerzen
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