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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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spricht mit niemandem?«
    Yeshe zuckte die Achseln. »Jedes Kloster folgt einem eigenen Protokoll. Manchmal ist vorgesehen, daß der Abt oder ein anderer hochverehrter Lama mit einem tsampsa kommunizieren darf.«
    Inzwischen schaute Sungpo wieder auf einen Punkt jenseits der Mauern. Shan war sich nicht sicher, ob der vermeintliche Mörder sie überhaupt gesehen hatte.

Kapitel 6
    Während man die südlichen Klauen des Drachen noch nicht bezwungen hatte, wurden ihre nördlichen Gegenstücke bereits von einer holprigen Schotterstraße im Zaum gehalten, die entlang ihrer Grenzen verlief. Gereizt lenkte Sergeant Feng den Wagen über diese Strecke und fluchte laut über jeden der Felsen, die gelegentlich den Weg versperrten. Immer wieder legte er Pausen ein und grübelte über der Landkarte, obwohl er ihre Route vor dem Aufbruch mit einem roten Stift markiert hatte, als müßte er eine Militärkolonne an ihr Ziel lotsen. Anfangs hatte er befohlen, daß Yeshe mit der Karte zwischen ihm und Shan sitzen würde, aber nach fünfzehn Kilometern hielt er an und ließ die beiden aussteigen. Er musterte nachdenklich die Sitzbank, als würden sich zahlreiche verwirrende Alternativen eröffnen. Dann hellte sich sein Gesicht auf. Mit zufriedenem Grunzen schnallte er sein Pistolenholster von der rechten auf die linke Hüfte und ließ Shan in der Mitte Platz nehmen.
    Shan sog die Karte gierig in sich auf. Er hatte das Tal während der letzten drei Jahre nur wenige Male verlassen und sich dabei stets in einem geschlossenen Gefangenentransporter befunden, so daß er einzelne Stücke der umliegenden Geographie nur völlig zusammenhanglos zu Gesicht bekam, als wären es Teile eines unerklärten Puzzles. Jetzt setzte er die Teile schnell zusammen. Er fand die Baustelle auf der Südklaue, wo Jao ermordet worden war, dann die Höhle, in der man den Kopf abgelegt hatte. Schließlich vollzog er ihren Weg durch die Berge nach, der zunächst um einen Gebirgskamm herumführte, bis sie beinahe die tiefe Schlucht erreichten, die Nord- und Südklauen voneinander trennte. Dann ging es im großen Bogen nach Westen weiter und um einen weiteren Kamm herum, bis sie letztendlich ein kleines Hochplateau erreichen würden, das auf der Karte mit einem handgeschriebenen Eintrag in schwarzer Tinte versehen war. Mei guo ren stand dort lediglich zu lesen. Amerikaner.
    Als Feng den Wagen anhielt, um abermals Felsen aus dem Weg zu räumen, erkannte Shan, daß sie sich am Rand der zentralen Schlucht befanden, die bei den Tibetern als Drachenschlund bekannt war. Einige Jahrhunderte zuvor war von dieser Stelle aus ein Steinschlag in den Schlund gerutscht und hatte eine schmale Lücke hinterlassen, die sich der Schlucht entgegenneigte und einen guten Ausblick auf die Südklaue bot. Auf der Karte gab es an diesem Punkt ein kleines Symbol - drei Punkte, die ein Dreieck bildeten. Ruinen. Das war ein allumfassender Begriff. Er konnte einen Friedhof bedeuten, ein Kloster einen Schrein oder eine Schule. Ein Pfad führte den kurzen Abhang des Steinschlags empor und verschwand in Richtung des Abgrunds. Shan half Feng mit den Felsen, hielt dann kurz inne und lief den Pfad hinauf.
    Die Ruine war eine Brücke, eine jener aufsehenerregenden Seilkonstruktionen, die in einem früheren Jahrhundert von Ingenieuren der Mönche mit dem Ziel errichtet worden waren, die Pilgerpfade begehbar zu machen. Sie war arg mitgenommen, aber nicht zerstört. Der Pfad, der zur Brücke und auf der anderen Seite von ihr wegführte, schien häufig benutzt zu werden. In mehr als einem Kilometer Entfernung entdeckte Shan einen kleinen roten Fleck, der sich deutlich von dem trockenen Heidekraut des steilen Hangs abhob.
    »Wir dürften in ungefähr dreißig Minuten da sein«, sagte Feng, als Shan zum Wagen zurückkehrte. Er ließ den Motor an und protestierte lautstark, weil Shan ein Fernglas von der Rückbank nahm und wieder den Pfad hinaufstieg.
    Er versuchte noch immer, den roten Fleck ins Visier zu bekommen, als Yeshe neben ihm sagte: »Ein Pilger.«
    Shan erkannte sofort, daß Yeshe recht hatte. Obwohl die Entfernung zu groß war, glaubte er beinahe hören zu können, wie die hölzernen Hand- und Knieblöcke auf den Boden schlugen, wenn der Mann niederkniete, sich demütig in den Staub warf und mit der Stirn die Erde berührte. Alle frommen Buddhisten versuchten im Lauf ihres Lebens, zu jedem der fünf heiligen Berge zu pilgern. Wenn sie auf ihrem Weg an der 404ten vorbeikamen, durchbrachen die

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