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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Haufen.
    Die Bretter knarrten. Das Seil ächzte. Der Wind fegte durch den Trichter des Schlunds. Neunzig Meter unter ihnen floß ein schmales Rinnsal zwischen den zerklüfteten Felsen hindurch. Shan mußte sich zu jedem einzelnen Schritt zwingen und hatte große Mühe, die ängstlich verkrampften Hände von den Führungsseilen zu lösen und sich neuen Halt zu suchen.
    In der Mitte blieb er stehen und stellte überrascht fest, daß man von hier aus eine gute Sicht auf Tans stolze Errungenschaft hatte, die neue Straßenbrücke, die sich am Übergang vom Schlund zum Tal befand. Der Wind zerrte an Shans Kleidung und versetzte die Brücke in Bewegung, so daß sie beunruhigend zu schaukeln begann. Er drehte sich um. Feng rief ihm etwas zu, doch seine Worte gingen im Wind unter. Er bedeutete Shan, nicht stehenzubleiben, denn er zweifelte, daß die Brücke das Gewicht von zwei Männern auf Dauer aushalten würde. Yeshe stand dort, wo Shan ihn zurückgelassen hatte, und starrte in den Abgrund.
    Auf der anderen Seite der Schlucht stiegen sie zwanzig Minuten lang den steilen Abhang hinauf. Shan ging voran, und Sergeant Feng, der älter und weitaus schwerer war, kam nur mit Mühe hinterher. Schließlich rief der Sergeant eine Warnung. Als Shan sich umdrehte, hatte Feng die Pistole gezogen. »Falls du wegläufst, werde ich dich jagen«, schnaufte der Sergeant. »Alle werden dich jagen.« Er richtete die Waffe auf Shan, senkte sie aber sogleich wieder mit bestürztem Blick, als hätte die Bewegung ihn erschreckt. »Sie werden deine Tätowierung zurückbringen«, sagte er zwischen den keuchenden Atemzügen. »Mehr brauchen sie nicht. Nur die Tätowierung.« Er wirkte völlig unentschlossen. Dann winkte er mit der Pistole. »Komm her.«
    Shan ging langsam auf ihn zu und wußte nicht, was ihn erwarten würde.
    Feng nahm ihm das Fernglas ab und machte sich auf den Rückweg.
    Shan ließ den Blick über den langgestreckten Hang des Bergrückens Richtung Süden schweifen. Der rote Fleck, der einen Pilger darstellte, war fast außer Sichtweite. Jenseits des oberhalb von Shan gelegenen Kamms befand sich die 404te. Er kletterte weiter. Als er den Grat erreicht hatte, fühlte er sich plötzlich überraschend heiter. Das Gefühl war so ungewohnt, daß er sich auf einen Felsen setzte, um darüber nachzudenken. Es war nicht nur die Befriedigung darüber, daß er einen weiteren Weg zur Baustelle gefunden hatte, die er nun unterhalb vor sich sah Es war nicht nur der ehrfurchtgebietende Ausblick wie vom Dach der Welt, der sich so weit erstreckte, daß Shan in mehr als hundertfünfzig Kilometern Entfernung den weiß schimmernden Gipfel des Chomolungma erspähen konnte, des höchsten Bergs im Himalaja. Es war die Klarheit.
    Einen Moment lang schien er nicht nur die Kammlinie erreicht, sondern eine neue Dimension betreten zu haben. Der Himmel war nicht einfach bloß klar, sondern wie eine Linse, die alles größer und detaillierter als zuvor wirken ließ. Die Unordnung in seinem Geist schien vom Wind weggeblasen worden zu sein. Er berührte die Stelle an seinem Hinterkopf, an der man ihm die Haarlocke abgeschnitten hatte. Choje hätte gesagt, er erstürme die Tore der Buddhaschaft.
    Und dann begriff er es: Es ging nur um den Berg. Man hätte Jao überall umbringen können, erst recht irgendwo entlang der abgelegenen Straße zum Flughafen. Doch man hatte ihn zur Südklaue gelockt, und zwar weil jemand wollte, daß ein jungpo den Berg beschützen würde. Jemand wollte den Bau der Straße verhindern. Viele Leute hatten ein Motiv für den Mord an Jao. Aber wer hatte Veranlassung, den Berg zu retten? Oder die Immigranten aufzuhalten, die sich im dahinter liegenden Tal niederlassen würden? Jao hatte sich in Begleitung von jemandem befunden, den er kannte und dem er vertraute. Diejenigen, die er kannte und denen er vertraute, wären aber am Bau und nicht an der Verhinderung von Straßen interessiert. Dem Mord haftete eine gewisse ungestüme Leidenschaft an, und doch hatte der Täter alles sorgfältig geplant. Es sah fast so aus, als gäbe es zwei Verbrechen, zwei Motive und zwei Mörder.
    Shan fuhr mit den Fingern über die Schwielen an seinen Händen. Sie wurden bereits weich, schon nach so wenigen Tagen. Sein Blick richtete sich wieder auf die 404te, Die Gefangenen befanden sich auf dem Hang, und unterhalb von ihnen, am Ende der Brücke, hatte sich etwas verändert. Dort ragten drohend zwei riesige graue Panzer auf, neben denen die Mannschaftswagen der

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