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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Zigarette. Shan und Yeshe traten in die Zelle.
    Der Raum war für mehrere Gefangene gedacht. Auf dem Boden lagen sechs Strohsäcke, und entlang der linken Wand stand eine Reihe von Eimern, von denen einer ein paar Zentimeter hoch mit Wasser gefüllt war. Ein weiterer Eimer war umgedreht aufgestellt und diente als Tisch. Auf ihm standen zwei kleine Blechschalen mit Reis. Der Reis war kalt und offenbar nicht angerührt worden.
    Die hintere Wand der Zelle lag im tiefen Schatten. Shan versuchte, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der dort saß, bis er bemerkte, daß der Häftling zur Wand schaute. Shan rief nach mehr Licht. Der Wachposten brachte eine batteriebetriebene Taschenlampe, die Shan auf einen umgestülpten Eimer legte.
    Der Gefangene Sungpo saß im Lotussitz. Er hatte die Ärmel seines Sträflingskittels abgerissen und daraus ein gomthag-Band angefertigt, das um seine Knie und den Rücken geknotet war. Dabei handelte es sich um ein traditionelles Hilfsmittel bei längeren Meditationen, mit dem ein erschöpftes Umkippen des Körpers vermieden werden sollte, solange der Geist sich anderswo befand. Sein Blick schien auf einen Punkt jenseits der Wand gerichtet zu sein, und seine Hände lagen vor seiner Brust aneinander.
    Shan setzte sich mit dem Rücken zur Wand, so daß er den Mann ansah, verschränkte die Beine und bedeutete Yeshe, es ihm gleichzutun. Einige Minuten lang harrte er schweigend aus, weil er hoffte, daß der Mann zuerst das Wort ergreifen würde.
    »Man nennt mich Shan Tao Yun«, sagte er schließlich. »Ich wurde beauftragt, die Fakten über Ihren Fall zusammenzustellen.«
    »Er kann Sie nicht hören«, sagte Yeshe.
    Shan rückte bis auf wenige Zentimeter an den Mann heran. »Es tut mir leid. Wir müssen reden. Man wirft Ihnen einen Mord vor.« Er berührte Sungpo, der blinzelte und sich in der Zelle umschaute. Sein tiefgründiger und intelligenter Blick ließ keine Angst erkennen. Er rückte herum, so daß er nun die angrenzende Wand ansah, so wie ein Schlafender sich nachts in seinem Bett umdrehen würde.
    »Sie stammen aus Saskya gompa«, sagte Shan und veränderte ebenfalls seine Position, bis er sich wieder gegenüber dem Mann befand. »Hat man Sie dort verhaftet?«
    Sungpo verschränkte die Hände vor dem Bauch und legte dann die Mittelfinger aneinander. Shan erkannte das Symbol. Der Diamant des Verstands.
    »Ai yi!« keuchte Yeshe.
    »Was versucht er zu sagen?«
    »Gar nichts. Und er wird auch nichts sagen. Diesen Mann hat man verhaftet? Das ergibt keinen Sinn. Er ist ein tsampsa«, sagte Yeshe resigniert. Er stand auf und ging zur Tür.
    »Er hat ein Gelübde abgelegt?«
    »Er ist in Klausur gegangen und braucht völlige Abgeschiedenheit. Er wird keinesfalls zulassen, daß man ihn stört.«
    Shan drehte sich verwirrt zu Yeshe um. Es mußte sich um einen überaus schlechten Scherz handeln. »Aber wir müssen mit ihm reden.«
    Yeshe stand zum Korridor gewandt. Ein neuer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. War es Verlegenheit, überlegte Shan, oder sogar Angst? »Unmöglich«, sagte Yeshe nervös. »Es ist ein Verstoß.«
    »Gegen sein Gelübde?«
    »Nicht nur gegen seines«, flüsterte Yeshe.
    Plötzlich verstand Shan. »Sie sprechen von sich selbst.« Zum erstenmal gab Yeshe ihm gegenüber die religiösen Verpflichtungen zu, die er als Jüngling eingegangen war.
    Shan legte eine Hand auf Sungpos Bein. »Können Sie mich hören? Sie werden des Mordes beschuldigt. In zehn Tages überstellt man Sie an ein Gericht. Sie müssen mit mir reden.«
    Auf einmal war Yeshe wieder neben ihm und zerrte ihn weg. »Sie verstehen es nicht. Es ist sein Gelübde.«
    Shan dachte, er wäre auf alles vorbereitet gewesen. »Wegen seiner Verhaftung? Aus Protest?«
    »Natürlich nicht. Damit hat es nichts zu tun. Schauen Sie sich seine Akte an. Er wurde bestimmt nicht direkt im gompa festgenommen.«
    »Nein«, bestätigte Shan, der den entsprechenden Bericht gelesen hatte. »Es war eine kleine Hütte, ungefähr anderthalb Kilometer oberhalb des gompa.«
    »Ein tsam khan. Eine besondere Art Obdach. Zwei Zimmer. Für Sungpo und einen Begleiter. Man hat ihn aus seinem tsam khan geholt. Ich weiß nicht, wie weit er ist.«
    »Wie weit?«
    »In seinem Zyklus. Das Kloster Saskya ist orthodox. Man folgt dort den alten Regeln. Drei, drei, dei wäre der übliche Zyklus.«
    Shan ließ sich zur Tür der Zelle ziehen. »Drei?«
    »Der kanonische Zyklus. Absolutes Stillschweigen für drei Jahre, drei Monate und drei Tage.«
    »Er

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