Der fremde Tibeter
Häftlinge die Disziplin und riefen ihnen kurze Ermutigungen oder eine Zeile aus einem Gebet zu. Manchmal nahm ein Mann oder eine Frau sich für eine solche Pilgerreise ein ganzes Jahr Zeit. Mit dem Bus dauerte die Fahrt von Lhasa zum heiligsten Gipfel, dem Kailas, etwa zwölf Stunden. Der im Staube liegende Pilger benötigte bis zu vier Monate.
Sergeant Feng tauchte auf. »Die Amerikaner! Wir sollen doch zu den Amerikanern fahren.«
»Ich gehe über die Schlucht bis zu dem Gebirgskamm auf der anderen Seite«, sagte Shan.
Feng hob die Hand zur Stirn, als verspüre er plötzlich große Schmerzen. »Du kannst da nicht rüber«, knurrte er. Er nahm die Karte und grinste. »Schau doch selbst nach. Die Brücke existiert gar nicht.« Vor einigen Jahren hatte Peking alle alten Hängebrücken von den Karten getilgt. Die meisten waren von der Volksluftwaffe bombardiert worden, weil sie das Fortkommen der Widerstandskämpfer erleichterten.
»Gut«, sagte Shan. »Dann werde ich jetzt diese imaginäre Brücke überqueren. Sie können solange hier warten und sich vorstellen, ich würde dicht neben Ihnen stehen.«
Fengs rundes Gesicht umwölkte sich. »Hiervon hat der Oberst nichts gesagt«, murmelte er.
»Und Ihre Aufgabe besteht darin, mir bei den Ermittlungen behilflich zu sein.«
»Meine Aufgabe besteht darin, einen Sträfling zu bewachen.«
»Dann lassen Sie uns umkehren. Wir werden Oberst Tan bitten, seine Befehle zu erläutern. Sicherlich hat der Oberst vollstes Verständnis dafür, wenn ein Soldat einen Befehl nicht versteht.«
Sergeant Feng schaute verwirrt zurück zum Wagen. Yeshe hingegen wirkte äußerst ungeduldig. Er machte einen Schritt auf das Fahrzeug zu, als wolle er so schnell wie möglich weiterfahren. »Ich kenne den Oberst«, sagte der Sergeant verunsichert. »Wir haben schon lange Zeit vor Tibet zusammen gedient. Er hat meine Versetzung arrangiert, als ich darum bat, in seinen Bezirk zu kommen.«
»Hören Sie, Sergeant. Das hier ist keine militärische Übung, sondern eine Ermittlung. Ermittler entdecken und reagieren. Ich habe diese Brücke entdeckt, und jetzt werde ich darauf reagieren. Vom Kamm dieses Bergrückens aus kann man vermutlich die Baustelle der 404ten sehen. Ich muß wissen, ob es möglich wäre, dort hinunterzuklettern, was bedeuten würde, daß es außer der Straße noch eine andere Route gibt.«
Feng seufzte. Er überprüfte demonstrativ die Munition in seiner Pistole, schnallte den Gürtel enger und ging auf die Brücke zu. Yeshe wirkte sogar noch zögerlicher als Feng.
»Sie werden ihm niemals helfen können, das wissen Sie doch, oder?« sagte Yeshe zu Shans Rücken.
Shan drehte sich um. »Ihm helfen?«
»Sungpo. Ich weiß, was Sie denken. Sie glauben, Sie müßten ihm helfen.«
»Falls er schuldig ist, werden die Beweise den Vorwurf erhärten. Und falls er unschuldig ist, verdient er dann nicht unsere Hilfe?«
»Ihnen ist das egal, weil es Sie nicht stört, wenn Ihnen Schaden zugefügt wird. Aber Sie werden lediglich erreichen, daß auch wir anderen in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie wissen, daß Sie niemanden retten können, der bereits formell beschuldigt wurde.«
»Wer versuchen Sie zu sein? Ein kleines Vögelchen, das dem Büro gern ein Liedchen trällern würde? Ist das Ihr Lebensinhalt?«
Yeshe starrte ihn aufgebracht an. »Ich versuche zu überleben«, sagte er steif. »Wie alle anderen auch.«
»Dann ist alles Verschwendung gewesen. Ihre Ausbildung. Ihre Zeit im Kloster. Ihre Haftstrafe.«
»Ich habe eine Anstellung. Ich werde die notwendigen Papiere erhalten und in die Stadt gehen. In der sozialistischen Ordnung gibt es für jeden einen Platz«, sagte er mit hohler Stimme.
»Für Leute wie Sie gibt es immer einen Platz. China ist voll davon«, erwiderte Shan und ging weiter.
Feng hatte die Brücke bereits erreicht und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Das ist... wir können doch nicht...« Er beendete den Satz nicht, sondern starrte auf die ausgefransten Haltetaue, die fehlenden Trittbretter und das Schwanken der wackligen Konstruktion im Wind.
Direkt vor der Brücke befand sich ein mehr als mannshoher Felshaufen. »Ein Opfer«, sagte Shan. »Reisende müssen zuerst ein Opfer darbieten.« Er nahm einen Stein vom Abhang, legte ihn auf den Haufen und trat auf die Brücke. Feng schaute zur Straße, als wolle er sich vergewissern, daß keine Zeugen zugegen waren. Dann suchte er sich hastig einen eigenen Stein und legte ihn auf den
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