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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Freude. Zum erstenmal seit mehr als zwei Jahren konnte er die Stimme seines Vaters hören, wie sie die Verse nachsprach. Die Stimme war noch immer da, nicht verloren, wie er befürchtet hatte, und wartete in einer entlegenen Ecke seines Verstands auf einen solchen Moment. Er roch den Ingwer, den sein Vater stets bei sich hatte. Falls er die Augen aufschlug, würde er dieses heitere Lächeln sehen, das dank des Stiefels eines Rotgardisten auf ewig schief bleiben würde. Shan lag regungslos da und erforschte ein fremdes Gefühl, von dem er beinahe glaubte, daß es Freude war.
    Als er schließlich die Augen wieder öffnete, waren die Schafe verschwunden. Er hatte sie nicht gehen hören, und er konnte sie auf dem Abhang nicht entdecken. Mit friedlichem Gesichtsausdruck richtete er sich auf, drehte sich um und erstarrte. Auf einem Felssims über ihm saß eine kleine Gestalt, die in einen übergroßen Schaffellmantel gehüllt war und eine rote Wollmütze trug. Sie lächelte Shan überaus freundlich an.
    Wie hatte der Mann sich so leise nähern können? Was hatte er mit den Schafen gemacht?
    »Die Frühlingssonne ist am besten«, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die stark, ruhig und hoch war. Das war kein Mann, sondern ein Junge, ein Jugendlicher.
    Shan zuckte verunsichert die Achseln. »Deine Schafe sind verschwunden.«
    Der Junge lachte. »Nein. Die Schafe glauben, daß ich verschwunden sei. Sie werden mich nachher schon finden. Wir halten sie nur deswegen, damit sie uns zu hochgelegenen Orten bringen. Eine Meditationstechnik, wenn man so will. Es ist jedesmal anders. Heute haben die Schafe mich zu dir geführt.«
    »Eine Meditationstechnik?« fragte Shan, weil er nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte.
    »Du bist einer von ihnen, nicht war?« bemerkte der Junge auf einmal.
    Shan wußte nicht, was er darauf antworten sollte.
    »Han. Ein Chinese.« Es lag keinerlei Bosheit in den Worten des Jungen, nur Neugier. »Ich habe noch nie einen Chinesen gesehen.«
    Shan starrte den Jungen verwirrt an. Sie befanden sich keine fünfundzwanzig Kilometer von der Bezirkshauptstadt entfernt. Bis zur nächsten Garnison der Volksbefreiungsarmee waren es rund dreißig Kilometer, und der Junge hatte noch nie einen Han- Chinesen zu Gesicht bekommen?
    »Aber ich habe die Werke von Laotse studiert«, sagte der Junge und verfiel plötzlich in fließendes Mandarin.
    Demnach war er die ganze Zeit hier gewesen. »Für jemanden, der noch nie einen Han gesehen hat, sprichst du sehr gut«, erwiderte Shan, ebenfalls auf Mandarin.
    Der Junge schwang die Beine über die Kante. »Wir leben in einem Land der Lehrer«, stellte er sachlich fest. »Kapitel einundsiebzig«, sagte er und meinte damit wieder das Taoteking. »Kennst du die Einundsiebzig?«
    »Wer weiß, daß er nicht weiß, ist weise«, rezitierte Shan. »Wer nicht um das Wissen weiß, ist leidend.« Nachdenklich betrachtete er den rätselhaften Jungen. Er sprach wie ein Mönch, war aber viel zu jung dafür. »Hast du es schon mal mit der Fünfundzwanzig versucht? Der Gang der Dinge bedeutet Fortschritt. Fortschritt bedeutet Ferne. Ferne bedeutet Rückkehr.«
    Erneut leuchtete das Gesicht des Jungen freudig auf. Er wiederholte die Textstelle.
    »Lebt deine Familie auf dem Berg?«
    »Meine Schafe leben auf dem Berg«, erwiderte der Junge.
    »Wer lebt auf dem Berg?« Shan ließ nicht locker.
    »Die Schafe leben auf dem Berg«, wiederholte der Junge. Er nahm einen Kiesel auf. »Warum bist du gekommen?«
    »Ich glaube, ich bin auf der Suche nach Tamdin.«
    Der Junge nickte, als habe er mit dieser Antwort gerechnet. »Wenn er erweckt wird, müssen die Unreinen sich fürchten.«
    Shan bemerkte eine Gebetskette an seinem Handgelenk, ein sehr altes Stück, das aus Sandelholz geschnitzt war.
    »Wirst du in der Lage sein, Tamdin offen anzusehen, wenn du ihn findest?« fragte der Junge.
    Shan schluckte und sah den merkwürdigen Jungen grübelnd an. Das schien die weiseste Frage zu sein, die man gegenwärtig stellen konnte. »Ich weiß es nicht. Was glaubst du?«
    Das heitere Lächeln legte sich wieder auf das Gesicht des Jungen. »Das Geräusch des Wassers ist es, was ich glaube«, sagte er und warf den Kiesel in die Mitte des Teiches.
    Shan sah den Kreisen zu, die über die Oberfläche des Wassers liefen. Dann wandte er sich zur Seite. Der Junge war verschwunden.
    Als Shan zurückkehrte, lehnte Feng schlafend an dem Felshaufen. Yeshe saß am Rand der Brücke, keine zwei Meter von der Stelle

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