Der fremde Tibeter
ihre Waren auf Decken am Boden feilboten. Shan riß erstaunt die Augen auf und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Hier vor ihm herrschte mehr Leben, als er es in den letzten drei Jahren gesehen hatte. Eine Frau hielt Garn aus Yak-Haaren in der ausgestreckten Hand, eine andere rief den Preis für Töpfe voller Ziegenbutter. Shan beugte sich hinunter und berührte einen Korb mit Eiern. Seit seiner Zeit in Peking hatte er kein einziges Ei mehr gegessen. Er hätte den Korb stundenlang anstarren können. Diese wunderbaren Eier. Ein alter Mann bot eine Vielzahl kunstvoller tormas an, der Bildnisse aus Butter und Teig, die als Opfergaben Verwendung fanden. Kinder. Shans Blick fiel auf eine Schar Kinder, die mit einem Lamm spielten. Er kämpfte gegen den Wunsch an, zu den Kindern zu gehen und eines davon zu berühren, nur um sich zu vergewissern, daß es eine solche Jugend und Unschuld immer noch gab.
Sergeant Fengs Hand auf seiner Schulter holte Shan auf den Boden der Tatsachen zurück, und er ging zwischen den Ständen weiter. Die Fragen tauchten wieder auf, der Eindruck, es gebe ein Muster. Lag es nur an seinem Wissen, daß ein Mann wie Sungpo keinen Mord begehen würde? Nein. Da war noch etwas. Wenn es nicht Sungpo war, dann war es eine Verschwörung. Aber wessen Verschwörung? Die der Beschuldigten? Oder die der Beschuldiger? Würde er der Welt beweisen, daß die Mönche schuldig waren, und sich dafür auf ewig Selbstvorwürfe machen? Oder würde er nachweisen, daß sie unschuldig waren, und dafür bis in alle Ewigkeit von der Regierung bestraft werden?
Feng kaufte einen Spieß mit gerösteten Holzäpfeln. Ein Mann mit einem milchigweißen Auge drehte eine Gebetsmühle und bot Krüge voller chang an, dem tibetischen Bier, das aus Gerste hergestellt wurde. Neben einem einzelnen Mädchen mit hüftlangen Zöpfen war Yakkäse aufgestapelt, hart, trocken und schmutzig. Ein Junge verkaufte Plastiktüten voller Joghurt, ein alter Mann irgendwelche Tierhäute. Shan bemerkte, daß die meisten Tibeter sich kleine Heidekrautzweige an die Gewänder gesteckt hatten. Ein einarmiges Mädchen rief ihnen zu, sie sollten ein Stück Seide kaufen, das man als khata benutzen konnte. Die Luft roch beißend nach gebuttertem Tee, Weihrauch und ungewaschenen Menschen.
Ein Trupp Soldaten überprüfte die Papiere eines drahtigen Mannes, der sich rastlos umschaute und in seinem Gürtel einen Dolch nach traditioneller Art der khampa trug. Als die Soldaten näher kamen, packte er nicht etwa den Dolch, sondern ein Amulett, das um seinen Hals hing, das gau -Medaillon, in dem sich vermutlich die Anrufung eines Schutzgeistes befand. Man ließ ihn weitergehen. Als der Mann dankbar sein gau tätschelte, fiel es Shan plötzlich wieder ein: Die Anwohner hatten sich über die Sprengungen beschwert, weil Tamdin dadurch verärgert worden sei. Fowler hatte gesagt nein, sie hätten erst vor sechs Monaten mit den Sprengungen angefangen. Das bedeutete, Tamdin war schon vor mehr als sechs Monaten gesehen worden. Tamdin war bereits davor verärgert gewesen. Ein Muster. Hatte Tamdin zuvor schon gemordet?
Yeshe blieb am anderen Ende des Marktes neben einem Laden stehen, dessen Eingang von einem dreckigen Teppich verdeckt wurde, der über zwei hohen Pfosten hing. Sergeant Feng musterte den dunklen Innenraum des Geschäfts und runzelte die Stirn. Mehr als ein chinesischer Soldat war an Orten wie diesem bereits in einen Hinterhalt geraten. Er wies auf einen Teeverkäufer in der Mitte des Marktplatzes. »Ich trinke zwei Tassen, mehr nicht.« Dann griff er in seine Hemdtasche und holte eine Trillerpfeife hervor, die an einer Kordel hing. »Danach alarmiere ich die Streife.« Er zog mit den Zähnen einen Apfel vom Spieß und ging weg.
Das Gebäude hatte keine Fenster und keinen anderen Eingang als den, durch den sie hereingekommen waren. Der Innenraum wurde lediglich von Butterlampen erhellt, deren trübes Licht durch Weihrauchschwaden noch zusätzlich gedämpft wurde. Als Shans Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er mehrere Regale voller Töpfe und Krüge. Er befand sich in dem Laden eines Kräuterkundigen. Hinter einem breiten Brett, das auf zwei hochkant stehenden Kisten lag, saß eine ausgemergelte Frau. Sie warf Shan und Yeshe einen leeren Blick zu. Vor der rechten Wand saßen drei Männer absolut regungslos auf dem Lehmboden. Shan folgte Yeshes Blick nach links, in die dunkelste Ecke des Raums. Auf einem roh behauenen Tisch stand ein
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