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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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schmutziger kegelförmiger Hut, dessen Krempe nach oben gebogen war. Dahinter befand sich ein dunklerer Schatten, der die Form eines Tiers hatte, vielleicht ein großer Hund. »Der Hut eines Zauberers«, flüsterte Yeshe nervös. »Ich habe keinen mehr gesehen, seit ich ein kleiner Junge war.«
    »Du hast nichts von einem Chinesen gesagt«, rief die alte Vettel. Bei diesen Worten sprang einer der Männer vom Boden auf und packte einen dicken Stock, der an den Regalen lehnte.
    Yeshe legte Shan eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Der ist in Ordnung«, erwiderte er fahrig. »Er ist nicht so.«
    Die Frau musterte Shan mit eisigem Blick und nahm dann vom untersten Regalbrett ein Glas, in dem sich irgendein Pulver befand. »Du willst etwas für die Potenz, nicht wahr? Das wollen die Chinesen immer.«
    Shan schüttelte langsam den Kopf und schaute Yeshe an. Nicht so? Er ging einen Schritt auf den Tisch in der Ecke zu. Der Schatten dahinter schien sich bewegt zu haben. Jetzt konnte man erkennen, daß es sich eindeutig um einen Mann handelte, der anscheinend schlief oder berauscht war. Shan machte noch einen Schritt. Die linke Gesichtshälfte des Mannes war eingeschlagen worden. Ein großes Stück von seinem linken Ohr fehlte. Vor ihm stand eine braune Schale mit silbernem Rand. Shan betrachtete das eigentümliche Muster auf dem Gefäß. Das war gar keine Schale, sondern die obere Hälfte eines menschlichen Schädels.
    Plötzlich sprang ein zweiter Mann vor, verharrte kurz neben Shans Ellbogen und murmelte eine Drohung, doch Shan verstand den Dialekt nicht. Als Shan sich umdrehte, erkannte er zu seiner Überraschung, daß es sich bei dem Mann um einen Mönch handelte, der allerdings irgendwie wild und barbarisch wirkte, wie Shan es noch nie zuvor bei einem Priester gesehen hatte.
    »Er sagt...« Yeshe warf einen Blick auf den Schlafenden. »Er sagt, falls Sie ein Foto machen, werden Sie sofort in die zweite Stufe der heißen Hölle geschickt.«
    Ganz gleich, wohin Shan kam, die Leute warnten ihn stets vor dem großen Leid, das ihm drohte. Er drehte die Handflächen nach außen, um zu zeigen, daß er nichts darin verborgen hielt. »Sagen Sie ihm, daß ich diese besondere Hölle noch nicht kenne«, forderte er Yeshe müde auf.
    »Machen Sie sich nicht über ihn lustig«, warnte Yeshe. »Er meint Kalasutra. Man nagelt Sie fest und schneidet Ihren Körper mit einer glühend heißen Säge in kleine Stücke. Diese Mönche gehören einer uralten Sekte an, von deren Mitgliedern kaum jemand mehr übrig ist. Sie werden Ihnen berichten können, daß diese Hölle tatsächlich existiert. Vielleicht sind diese Männer selbst schon dort gewesen.«
    Shan musterte den Mönch und erschauderte.
    Yeshe packte seinen Arm und zog daran. »Nein. Verärgern Sie ihn nicht. Dieser Trunkenbold kann nicht der Mann sein, den wir suchen. Lassen Sie uns von hier verschwinden.«
    Shan ignorierte ihn und ging wieder auf die Frau zu.
    »Ich könnte dir die Zukunft weissagen«, sagte die Frau mit einer Stimme, die dem Glucksen einer Henne glich.
    »Kein Interesse«, entgegnete Shan. Auf dem Tisch lag eine Messingplatte von der Größe seines Handtellers, deren Rand mit kleinen Abbildungen Buddhas versehen war. Die Mitte war blankpoliert.
    »Ihr Leute mögt doch Weissagungen.«
    »Weissagungen erzählen etwas über Tatsachen. Mich interessieren Zusammenhänge«, sagte Shan. Er griff nach der Platte.
    Yeshes Hand schoß vor und packte seinen Arm, bevor er sie berühren konnte.
    »Für dich nicht«, sagte die Frau und warf Yeshe einen tadelnden Blick zu, als wünschte sie, Shan hätte die Scheibe angefaßt.
    »Was ist das?« fragte er. Yeshe wandte ihm den Rücken zu, als müßte er Shan vor eventuellen Angriffen beschützen.
    »Große Kraft«, gackerte die Frau. »Ein Zauber. Eine Falle.«
    »Eine Falle wofür?«
    »Den Tod.«
    »Es fängt den Tod? Du meinst Geister?«
    »Nicht diese Art von Tod«, erwiderte sie geheimnisvoll und stieß seine Hand weg.
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Dein Volk versteht nie. Es fürchtet den Tod als Ende des Lebens. Aber das ist nicht der wichtige Tod.«
    »Du meinst, es fängt die Kräfte ein, die der Seele schaden.«
    Die Frau nickte langsam und anerkennend. »Wenn man es richtig anwendet.« Sie betrachtete ihn einen Moment lang, nahm dann eine Handvoll schwarzer und weißer Kiesel aus einer Schale und warf sie auf den Tisch. Feierlich ordnete sie die Steine in einer Reihe an und zog nach sorgfältiger Überlegung

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