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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ein paar der Kiesel aus der Linie heraus. Sie sah Shan traurig an. »Im nächsten Monat darfst du nicht allein im Boden graben. Du mußt torma-Opfer verbrennen. Du mußt dich vor schwarzen Hunden verneigen.«
    »Ich muß mit Khorda sprechen.«
    »Wer bist du?« fragte die Frau.
    Shan wog seine Worte sorgfältig ab. »Im Augenblick weiß ich lediglich, wer ich nicht bin«, flüsterte er zurück.
    Sie kam um den Tisch herum und nahm seine Hand, als könne er sich verirren, falls er allein versuchte, die Ecke zu erreichen. Der Mönch wollte sich Shan erneut in den Weg stellen, aber ein gebieterischer Blick der Frau ließ ihn innehalten. Er wich zurück und setzte sich mit dem Gesicht nach außen direkt in den Eingang. Yeshe nahm neben ihm an der Tür Platz, behielt jedoch Shan im Blick, als würde er ihm jede Sekunde zur Rettung beispringen müssen.
    Shan setzte sich vor dem Tisch auf eine Kiste und sah den alten Mann an.
    In diesem Moment öffneten sich schlagartig die Augen des Mannes und schauten sich wachsam um. Er wirkte wie ein Raubtier, das plötzlich aus dem Schlaf erwachte.
    Shan hatte den flüchtigen Eindruck, er würde in das Gesicht eines Götzenbildes blicken. Das Auge auf der zerschmetterten Gesichtshälfte des Mannes musterte ihn mit übernatürlicher Intensität. Der Augapfel war nicht mehr vorhanden und durch eine leuchtendrote Glaskugel ersetzt worden. Das rechte, lebendige Auge wirkte allerdings auch nicht viel menschlicher. Es glühte ebenfalls wie ein Juwel, das von hinten beleuchtet wurde.
    »Choje Rinpoche hat mir geraten, mit dir zu sprechen.« Das Auge schien sich kurz nach innen zu wenden, als suche es nach einer Erinnerung. »Ich kannte Choje, als er nichts weiter als ein braungewandeter rapjung war, ein Lehrling«, sagte Khorda schließlich. Seine Stimme war wie Geröll, das man an einem Felsen rieb. »Man hat sein gompa vor vielen Jahren eingenommen. Wo studiert er heute?«
    »In der 404. lao gai-Brigade.«
    Khorda nickte langsam. »Ich habe gesehen, wie sie gompas einnehmen.« Die rechte Seite von Khordas Gesicht verzerrte sich zu einem abscheulichen Grinsen. »Weißt du, was das bedeutet?« fragte der Zauberer. »Sie vernichten es. Sie tragen es Stein um Stein ab. Sie löschen jegliche Spur seiner Existenz aus. Sie machen das Fundament dem Erdboden gleich. Sie nennen es Rückgewinnung. Sie nehmen die Steine und bauen Baracken. Falls sie ein Loch schaufeln könnten, das groß genug ist, würden sie ganz Tibet darin begraben.« Khorda starrte Shan an. Nein, er starrte auf einen Punkt hinter Shan, den er durch Shans Schädel hindurch zu sehen schien. Kurz darauf schloß er die Lider.
    »Ich habe einen Toten berührt«, sagte Shan.
    Langsam öffnete sich das linke Augenlid. Das rote Juwel starrte ihn an. »Eine weitverbreitete Sünde. Kaufe eine Ziege frei.« Khordas Stimme klang wie ein Schatten ihrer selbst. Sie war heiser und keuchend und schien aus weiter Ferne zu kommen.
    Diese Art der Buße war unter den Hirtenvölkern üblich, die eine Ziege aus der Herde freikauften, um sie vor dem Kochtopf zu retten. »Dort, wo ich lebe, gibt es keine Ziegen.«
    Die Wange verzog sich erneut zu einem halben Grinsen. »Der Freikauf eines Yaks wäre sogar noch besser.«
    »Der Mörder hat das hier getragen.«
    Das Gesicht des Zauberers straffte sich. Sein gutes Auge öffnete sich und fixierte starr die Scheibe, die Shan ihm entgegenstreckte. Er nahm sie Shan aus der Hand und hielt sie sich näher vor das Gesicht.
    »Sobald er erst mal erweckt war, würde er wohl kaum untätig herumsitzen.« Khorda nickte wissend. »Wenn er alles gesehen hat, wird er nie wieder ruhen.«
    »Alles? Du meinst die Morde?«
    »Er meint 1959«, erklärte die Frau hinter Shan. Das Jahr der abschließenden chinesischen Invasion.
    »Ich muß ihn treffen.«
    »Leute wie du..«, sagte Khorda, »Leute wie du können ihn nicht treffen.«
    »Aber ich muß.«
    Wieder das scheußliche Grinsen. »Du wirst die Folgen tragen?«
    »Ich werde die Folgen tragen«, erwiderte Shan. Er fühlte seine Lippen bei diesen Worten zittern.
    »Deine Hände«, krächzte Khorda. »Zeig sie mir.«
    Nachdem Shan sie mit den Handflächen nach oben auf den Tisch gelegt hatte, beugte Khorda sich über jede einzelne und musterte sie lange. Dann blickte er auf und sah Shan in die Augen. Gleichzeitig schob er Shans Hände zusammen und ließ eine Gebetskette hineinfallen.
    Die Perlen waren eiskalt und schienen seine Hände taub werden zu lassen. Sie waren aus

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