Der fremde Tibeter
Elfenbein gefertigt, und jede einzelne war kunstvoll zu einem winzigen Schädel geschnitzt worden.
»Sprich mir nach«, sagte Khorda. In seiner Stimme schwang etwas Neues mit, ein durchdringender Befehlston, der Shan in sein Auge blicken ließ. »Sieh mich an, mit den Perlen in deinen Händen, und wiederhole die folgenden Worte. Om! Padme te krid kum phat!« stieß er hervor.
Shan tat, wie ihm geheißen.
Hinter ihm keuchte Yeshe auf. Die Frau gab ein Geräusch von sich, das wie das Krächzen eines Raben klang. War es Lachen? Oder ein angstvoller Aufschrei?
Sie wiederholten das seltsame Mantra mindestens zwanzigmal. Dann bemerkte Shan, daß Khorda aufgehört hatte und nur noch er selbst sprach. Er fühlte sich schwindlig, dann packte ihn ein starkes Kältegefühl, und alles schien dunkel zu werden. Die Worte kamen schneller und schneller heraus, als würde seine Stimme von jemand anderem kontrolliert. Plötzlich gab es einen hellen Blitz, der direkt in seinem Kopf aufzuzucken schien, und Khorda stieß ein lautes Brüllen aus, als habe er furchtbare Schmerzen.
Shan erzitterte heftig. Er ließ den Rosenkranz fallen und sah plötzlich wieder den Raum vor sich. Das Zittern hörte auf, doch seine Hände blieben weiterhin eiskalt.
Der Zauberer keuchte, als hätte er sich körperlich sehr angestrengt. Argwöhnisch schaute er sich im Zimmer um und achtete besonders auf die Schatten in den Ecken, als würde er damit rechnen, daß etwas von dort hervorspringen könnte. Er streckte den Arm aus und stieß mit einem knorrigen Finger Shans Brust an. »Bist du noch am Leben?« krächzte er. »Bist das immer noch du, Chinese?« Er nahm die Gebetskette und musterte abermals Shans Handflächen.
Shans Herz raste. »Wie finde ich Tamdin?« fragte er.
»Folge seinem Pfad. Er wird jetzt nicht mehr weit entfernt sein«, sagte der Zauberer mit seinem schiefen Grinsen. »Falls du mutig genug dafür bist. Tamdins Pfad ist ein Pfad der Unbarmherzigkeit. Manchmal führt nur Unbarmherzigkeit zur Wahrheit.«
»Was...« Shans Mund war staubtrocken. »Was ist, falls jemand Tamdin beleidigt hat? Was wäre in so einem Fall zu tun?«
»Einen Schutzdämon beleidigen? Dann rechne damit, nur das Nichts zu erlangen.«
»Nein. Ich meine, ein wahrhaft Gläubiger hat etwas im Namen Tamdins getan, hat vorgegeben, Tamdin zu sein. Vielleicht hat er sich sogar Tamdins Gesicht geborgt.«
»Für die Rechtschaffenen gibt es Zauber, um Vergebung zu erlangen. Bei dem Mädchen könnte es funktionieren.«
»Ein Mädchen hat Tamdin um Verzeihung ersucht?«
Khorda erwiderte nichts.
»Kann es auch bei mir funktionieren?« Falls ein Ungläubiger ein Kostüm benutzte, würde er nicht um einen solchen Zauber bitten, erkannte Shan. Aber ein Ungläubiger hätte auch nur dann Veranlassung, sich auf diese Weise zu verkleiden, wenn er den buddhistischen Mönchen schaden wollte. Und dann würde er sich keine Gedanken um Vergebung machen. Shan seufzte. Er wünschte, er könnte sich einfach damit begnügen, das Nichts zu erlangen.
Khorda nahm seinen Zaubererhut und setzte ihn auf. Wie aufs Stichwort erschien die Frau mit einem Blatt Reispapier, Tinte und einem Pinsel. Khorda nahm den Pinsel und begann, das Papier zu beschriften. Er zeichnete mehrere große Ideogramme, schloß dann das rechte Auge und hob das Blatt vor das rote Juwel auf der linken Seite seines Gesichts. Er schüttelte bekümmert den Kopf, riß das Papier in kleine Fetzen und ließ sie zu Boden fallen. »Es bleibt nicht an dir haften«, stöhnte Khorda und richtete seinen unheimlichen Blick auf Shan. »Für dich ist sehr viel mehr erforderlich.« Die Hand des Zauberers, die nach wie vor den Rosenkranz umklammert hielt, begann zu zittern.
»Was siehst du?« hörte Shan sich wie aus einiger Entfernung selbst fragen. Er massierte sich die Finger. Die Stellen, an denen sie die Schädelkette berührt hatten, fühlten sich noch immer eiskalt an.
»Ich kenne Männer wie dich. Wie ein Magnet. Nein. Anders. Wie ein Blitzableiter. Falls du nicht aufpaßt, wird deine Seele lange vor deinem Körper aufgebraucht sein.«
Khordas Hand zitterte plötzlich sehr heftig. Sie fing an, sich zu bewegen. Khorda schien dagegen anzukämpfen und zu versuchen, sie zurückzuhalten, jedoch vergebens. Sie zuckte auf Shan zu und griff in seine Tasche. Zwei knochige Finger zogen ein Stück Papier heraus. Es war Chojes Schutzzauber. Die zitternde Hand entfaltete das Blatt und ließ es dann plötzlich fallen, als hätte sie sich
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