Der fremde Tibeter
sagte Shan. »Aber was bedeutet es für dich und mich?«
Der purba, starrte ihn an. »Diese Leute haben meinen Lama ermordet«, sagte er.
»Diese Leute haben meinen Vater ermordet«, gab Shan zurück.
»Aber du wirst Sungpo anklagen.«
»Nein. Ich führe die Untersuchung durch.«
»Warum?«
»Ich bin ein lao gai-Gefangener. Diese Arbeit wurde mir zugewiesen.«
»Weshalb sollten sie dafür einen Sträfling benutzen? Das ergibt keinen Sinn.«
»Weil auch ich ein Leben vor der 404ten hatte. Ich war Ermittler in Peking. Deshalb hat Tan mich ausgesucht. Warum er überhaupt beschlossen hat, die Untersuchung nicht vom Büro des Anklägers durchführen zu lassen, weiß ich noch nicht.«
Der Haß in der Stimme des Mannes ließ nach. »Es gib hier bereits einmal Aufstände. Auch damals sind die Kriecher in dieses Tal gekommen. Viele wurden getötet. Es gab nie einen offiziellen Bericht darüber.«
Shan nickte bekümmert.
»Es sah so aus, als würden sie endlich Ruhe geben. Aber dann haben sie angefangen, die Fünf zu schikanieren.«
»Jeder der Fälle wurde vor Gericht verhandelt. Immerhin ging es jedesmal um einen Mord.« Auch wenn ihm die Gewalttätigkeit des Mannes widerstrebte, wollte Shan doch verzweifelt Einigkeit mit den purbas erzielen. »Akzeptiere doch wenigstens, daß Mörder bestraft werden müssen. Das hier ist kein Pogrom gegen die Buddhisten.«
»Bist du sicher?«
Nein, erkannte Shan müde, er war sich nicht sicher. »Aber es hat jedesmal mit einem Mord angefangen.«
»Seltsame Worte für jemanden aus Peking. Ich kenne Leute deines Schlages. Mord ist kein Verbrechen, sondern eine politische Erscheinung.«
Shan verspürte einen ungewohnten Eifer und erwiderte den Blick des jungen Mönches. »Was hast du vor? Willst du mich warnen? Willst du mich davon abhalten, eine Aufgabe zu erledigen, zu der ich gezwungen wurde?«
»Es muß eine angemessene Vergeltung geben, wenn ihr einen der Unseren wegnehmt.«
»Rache entspricht nicht der buddhistischen Lehre.«
Als der Mönch die Stirn runzelte, verzerrten die langen Streifen Narbengewebe sein Gesicht zu einer grausigen Maske. »Das ist die Geschichte der Zerstörung meines Landes. Friedliche Koexistenz. Laßt die Rechtschaffenheit über die rohe Gewalt obsiegen. Das funktioniert nicht, wenn die Rechtschaffenheit keine Stimme mehr hat.« Er packte Shans Kinn und zwang ihn zum Hinsehen, als er langsam den Kopf wandte, um Shan sein zerstörtes Gesicht in allen Einzelheiten zu zeigen. »Wenn du in diesem Land die andere Wange hinhältst, zerschmettern sie dir eben alle beide.«
Shan stieß die Hand des purba weg und sah ihm in die funkelnden Augen. »Dann hilf mir. Nur die Wahrheit kann all dem hier ein Ende bereiten.«
»Uns ist egal, wer den Ankläger ermordet hat.«
»Sie werden einen Verdächtigen nur dann freilassen, wenn sie einen besseren finden.«
Der purba starrte Shan noch immer mißtrauisch an. »In der Hütte von Choje Rinpoche gibt es einen chinesischen Gefangenen, der mit Rinpoche betet. Man nennt ihn den Chinesischen Stein, weil er so hart ist. Er hat nie klein beigegeben. Er hat durch einen Trick die Freilassung eines alten Mannes erreicht.«
»Der Name des alten Mannes war Lokesh«, erwiderte Shan. »Er hat die alten Lieder gesungen.«
Der Mann nickte langsam. »Was erwartest du von uns?«
»Ich weiß es nicht.« Shans Blick richtete sich auf Khordas Hütte. »Ich würde gern wissen, wer auf einmal nach Zauberformeln gefragt hat, um Vergebung von Tamdin zu erlangen.
Ein junges Mädchen. Und ich muß Balti, den khampa finden, Ankläger Jaos Fahrer. Niemand hat ihn oder den Wagen seit dem Mord gesehen.«
»Du glaubst, wir würden mit dir zusammenarbeiten?«
»Ja, um die Wahrheit herauszufinden.«
Der Mönch antwortete nicht. Inzwischen konnte man Sergeant Fengs Stimme hören, der über das Meckern der Ziegen hinweg Shans und Yeshes Namen rief.
»Hier.« Der purba vor ihnen drehte sich um und gab Yeshe eine kleine Ziege auf den Arm. Seine Tarnung.
Als Shan und Yeshe aus dem Durchgang traten, hob Feng soeben die Trillerpfeife an die Lippen.
Shan blickte zurück. Die purbas waren verschwunden.
Auf dem Rückweg zum Wagen sprach Yeshe kein Wort. Er setzte sich auf die Rückbank und starrte ein Stück Heidekraut an, wie die Leute auf dem Markt es getragen hatten. »Ein Mädchen hat es mir gegeben«, sagte er mit trostloser Stimme. »Sie hat gesagt, ich solle es für die anderen tragen. Ich habe gefragt, wen sie damit meinte. Die
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