Der fremde Tibeter
verbrannt.
Der alte Mann nahm die Zauberformel genau in Augenschein und nickte respektvoll. »Dieser Choje muß dich sehr lieben, Chinese, wenn er dir so etwas mitgibt«, sagte er ernst. Ein heiseres Lachen stieg aus seiner Kehle auf. »Jetzt weiß ich auch, wieso du überlebt hast«, stieß er hervor. »Aber es kann nicht ändern, was du getan hast.« Er seufzte tief, als habe eine machtvolle Umklammerung ihn freigegeben, und begann, die Schädelperlen in seiner Hand anzustarren. Eine tiefgehende Neugier zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als könne er nicht verstehen, auf welche Weise oder aus welchem Grund der Rosenkranz dorthin gelangt war.
»Was ich getan habe? Das Mantra mit den Schädeln?« fragte Shan.
Doch Khorda schien ihn nicht zu hören. Die Frau zog drängend an seinem Arm. »Die Beschwörung«, zischte sie, als sie ihn zur Tür hinausschob. »Du hast den Dämon beschworen.«
Als sie durch das Gewirr der Marktstände zurückgingen, befand sich vor ihnen ein zweirädriger Karren voller junger Ziegen, der von zwei alten Frauen gezogen wurde. Die Frauen stolperten, und der Karren stürzte um, so daß die Ladung sich direkt über Feng ergoß. Der Sergeant ging inmitten einer Schar meckernder Tiere zu Boden. Sofort brach überall um sie herum hektische Aktivität aus. Händler stießen wütende Rufe aus, um die Ziegen von ihren Waren fernzuhalten. Hirten sprangen zu Hilfe herbei und verschlimmerten das Durcheinander nur noch.
Neben Shan tauchten drei Männer auf, die wie Hirten mit Schaffellwesten und Mützen bekleidet waren. Sie stießen Yeshe und Shan in einen Durchgang, der ungefähr zwei Meter entfernt lag. Einer der Männer wandte ihnen den Rücken zu, um sie vor Fengs Blicken abzuschirmen; er begann, lautstark die Hirten anzufeuern.
»Wir wissen, daß ihr Sungpo habt«, sagte einer der Männer freiheraus. Er nahm seine Mütze ab. Ein vertrauter Haarschnitt wurde sichtbar. Mehrere lange Narben zogen sich kreuz und quer über sein Gesicht.
»Ist es nicht eine Verletzung der Klosterregeln, kein Mönchsgewand zu tragen?« fragte Shan.
Der Mann warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Wenn man keine Lizenz hat, ist man nicht allzu wählerisch«, erwiderte er geistesabwesend. Seine Aufmerksamkeit galt Yeshe. »In welchem gompa warst du?« wollte er wissen.
Yeshe versuchte zu fliehen. Der Mann neben ihm packte ihn an der Schulter. Der Griff schien Yeshe den Atem zu rauben. Keuchend beugte er sich vor. Es handelte sich um einen traditionellen Zangengriff der asiatischen Kampfsportarten.
»Was für Mönche...«, setzte Shan an, als ihm plötzlich klar wurde, woher die Narben rührten. Sie waren eine freundliche Erinnerung an die Schlagstöcke der Öffentlichen Sicherheit und stammten von einer derart brutalen Tracht Prügel, daß lange Streifen Haut aufgeplatzt waren. Manchmal klebten die Häscher der Öffentlichen Sicherheit Sandpapier auf ihre Knüppel.
Der Begleiter des Mannes hielt Yeshe am Oberarm fest.
»Purbas!« warnte Yeshe.
»Manche behaupten, du seist einer der zung mag, die unter dem Schutz von Choje Rinpoche stehen«, sagte das Narbengesicht. Zung mag war ein tibetischer Begriff. Er bedeutete »Kriegsgefangene«. Choje hatte diese Bezeichnung noch nie benutzt. »Andere sagen, du stehst unter dem Schutz von Oberst Tan. Beides zugleich kann nicht sein. Du spielst ein gefährliches Spiel.« Schweigend nahm er Shans Arm, knöpfte die Manschette auf und schob den Ärmel hoch. Er drückte das Fleisch rund um die Tätowierung ein. Mit diesem Test erkannte man in den Gefängnissen Infiltratoren. Erst kürzlich angebrachte Tätowierungen wurden nicht bleich, weil sich darunter noch ein Bluterguß befand.
Der Mann nickte seinem Begleiter zu, der daraufhin Yeshe losließ. »Hast du eigentlich auch nur die geringste Vorstellung davon, was geschehen wird, falls ihr noch einen der Fünf hinrichtet?« In seinem Ärmel war ein weiteres Kleidungsstück sichtbar. Shan erkannte, daß er unter der Hirtenkleidung tatsächlich ein Priestergewand trug.
Aus irgendeinem Grund machte der Mann Shan wütend. »Mord ist ein Kapitalverbrechen.«
»Wir hier in Tibet wissen über Kapitalverbrechen Bescheid«, erwiderte der purba wütend. »Mein Onkel wurde getötet, weil er die Aussprüche eures Vorsitzenden in einen Nachttopf geworfen hat. Mein Bruder wurde hingerichtet, weil er an einem Massengrab eine Zeremonie durchführen wollte.«
»Das ist Geschichte.«
»Macht es das besser?«
»Nicht im geringsten«,
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