Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
Shan einen besorgten Blick zu und folgte ihm dann zum Höhleneingang. Feng blieb zurück, während sie ihre Taschenlampen überprüften, und nahm auffallend gründlich die Reifen des Fahrzeugs in Augenschein.
    Die beiden Männer gingen schweigend durch den Eingangstunnel, und mit jedem Schritt fiel Yeshe ein Stück hinter Shan zurück.
    »Das hier ist kein...«, setzte Yeshe nervös an, als er Shan am Eingang zur Hauptkammer einholte. Die riesigen Gestalten auf den Wänden schienen im trüben, zitternden Licht der Lampen zu tanzen und die Neuankömmlinge wütend anzustarren.
    »Kein was?«
    »Kein Ort, an dem...« Yeshe rang mit sich, aber Shan war sich über den Grund dafür nicht sicher. Hatte man ihm befohlen, Shan irgendwie aufzuhalten? Hatte er vielleicht beschlossen, von seiner Aufgabe zurückzutreten?
    Die Bilder der Dämonen und Buddhas schienen mit Yeshe zu reden. Er neigte den Kopf in ihre Richtung, und sein Gesicht umwölkte sich, aber es war weder Angst vor den Abbildungen noch Wut auf Shan. Es war nur Schmerz. »Wir sollten nicht hier sein«, sagte er. »Dieser Ort ist nur für die heiligsten Personen.«
    »Sie weigern sich aus religiösen Gründen weiterzumachen?«
    »Nein«, gab Yeshe abwehrend zurück. Er richtete seinen Blick auf den Höhlenboden und vermied es, die Gemälde anzusehen. »Ich meine, dieser Ort ist nur für die religiösen Minderheiten von Bedeutung.« Er schaute auf, sah Shan aber nicht ins Gesicht. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten verfügt über Spezialisten. Die wären weitaus qualifizierter, um kulturelle Interpretationen vorzunehmen.«
    »Wie seltsam. Ich dachte, ein ausgebildeter Mönch wäre eine noch bessere Wahl.«
    Yeshe wandte sich ab.
    »Ich glaube, Sie haben Angst«, sagte Shan. »Angst davor, daß jemand Ihnen vorwerfen könnte, Tibeter zu sein.«
    Yeshe stieß ein Geräusch aus, das fast wie ein Lachen klang, aber als er sich wieder umdrehte, war seine Miene vollkommen ernst.
    »Wer sind Sie?« fragte Shan. »Der gute Chinese, der sich danach sehnt, in einer Milliarde gleichgeschalteter Mitbürger aufzugehen? Oder der Tibeter, der erkennt, daß hier Leben auf dem Spiel stehen? Nicht nur eines, sondern viele. Und wir sind die einzigen, die diese Leben vielleicht retten können. Ich. Und Sie.« Yeshe drehte sich um, als habe er etwas gehört, und erstarrte.
    Shan folgte seinem Blick. Am anderen Ende der Kammer waren Lichter aufgetaucht, im nächsten Moment wurden aufgeregte Stimmen laut.
    Sie schalteten sofort ihre eigenen Lampen aus und wichen in den Tunnel zurück. Tan hatte die Höhle geschlossen. Niemand außer ihnen durfte sie betreten. Draußen hatten keine anderen Fahrzeuge gestanden. Wer auch immer die Eindringlinge waren, sie gingen für den Fall ihrer Entdeckung ein großes Risiko ein.
    »Purbas«, flüsterte Yeshe. »Wir müssen verschwinden, schnell.«
    »Aber wir haben sie doch eben erst am Markt zurückgelassen.«
    »Nein. Ihre Zahl ist groß, und sie sind sehr gefährlich. Ein Erlaß aus der Hauptstadt besagt, es sei die Pflicht eines jeden Bürgers, sie zu melden.«
    »Demnach wollen Sie von mir weg, um die Leute zu melden?« fragte Shan.
    »Was soll das heißen?«
    »Seit wir die purbas auf dem Marktplatz getroffen haben, war die ganze Zeit Sergeant Feng bei uns. Sie haben ihm nichts erzählt.«
    »Diese Leute sind Verbrecher.«
    »Sie sind Mönche. Werden Sie sie melden?« wiederholte Shan die Frage.
    »Falls wir bei der Zusammenarbeit mit ihnen erwischt werden, wird man uns das als eine Verschwörung auslegen«, erwiderte Yeshe voller Qual. »Mindestens fünf Jahre lao gai.«
    Shan erkannte, daß die Eindringlinge sich nicht in dem Schädelgang befanden, sondern in einer kleineren Nische in der Mitte der gegenüberliegenden Wand. Er stieß Yeshe vorwärts und schlich sich leise am Rand der großen Kammer entlang. Plötzlich, als keine zehn Meter mehr vor ihnen lagen, zuckte ein gleißender Blitz auf.
    Der Fotoapparat war auf die Wandgemälde neben Shan gerichtet, doch der Blitz traf ihn dennoch mitten ins Gesicht und blendete ihn. Ein schriller Schrei zerriß die Stille und wurde abrupt erstickt. »Verflucht«, stöhnte jemand anders, dessen Stimme deutlich tiefer war.
    Shan schirmte die Augen vor einem weiteren Blitz ab und schaltete seine Lampe ein. Rebecca Fowler starrte ihnen wie betäubt entgegen. Sie hatte eine Hand auf die Brust gelegt, als hätte man ihr dort einen Stoß versetzt.
    »Meine Güte«, sagte der Mann mit der Kamera. »Ich

Weitere Kostenlose Bücher