Der fremde Tibeter
diesen alten Schreinen«, sagte er mit spröder Stimme, »war die Altarstatue oftmals aus massivem Gold.«
Kincaid stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Mein Gott! Die ist Millionen wert.«
»Unbezahlbar«, sagte Fowler mit aufgeregtem Blick. »Das richtige Museum... «
»Ich glaube kaum«, warf Shan ein.
»Haben Sie eine Vorstellung davon, wie einzigartig diese Statue wäre? Ein bedeutender Fund. Die Entdeckung des Jahres.«
»Nein.« Shan schüttelte langsam den Kopf. Die Begeisterung der Amerikaner machte ihn beinahe wütend. Nein, nicht die Begeisterung. Die Naivität.
»Was meinen Sie?« fragte Fowler.
Shan antwortete, indem er den Strahl seiner Lampe durch den Raum wandern ließ. Er fand, was er suchte, unter einem der anderen Tische: mehrere Hämmer und Meißel. »Hundert neunzig Kilo Gold würden sich in einem großen Stück nur sehr unbequem transportieren lassen.« Er nahm einen der Meißel und zeigte den Amerikanern die glänzenden Metallfragmente, die sich in die Klingen der Werkzeuge gegraben hatten.
Rebecca Fowler packte den Meißel und starrte ihn an. Dann schleuderte sie ihn gegen die Wand. »Diese Schweine!« rief sie. Wütend nahm sie einige der Computerdisketten und steckte drei in ihre Hemdtasche, während sie Shan anstarrte, als wollte sie ihn herausfordern, sich mit ihr anzulegen.
Kincaid warf der Frau einen erkennbar bewundernden Blick zu und fertigte dann weitere Fotos an. Yeshe blätterte durch das Hauptbuch und hielt bei einem losen Blatt im hinteren Teil inne.
Er blickte erregt auf und reichte die Seite an Shan weiter. »Für eine Art Rechenschaftsbericht«, flüsterte er, als wolle er nicht, daß die Amerikaner etwas davon mitbekamen. »Vom Büro für Religiöse Angelegenheiten.«
»Aber die Seite ist leer.«
»Ja«, erwiderte Yeshe, »aber sehen Sie doch mal genauer hin. Hier sind Felder für den Namen des gompa, das Datum, die gefundenen Relikte und deren weitere Verwendung. Falls das Büro solche Verzeichnisse anlegt, könnten wir herausfinden, ob es irgendwo ein Tamdin-Kostüm gegeben hat.«
»Und außerdem, wann es entdeckt wurde und wo es sich jetzt befindet.« Shan nickte mit einem Anflug von Tatendrang.
»Genau.«
Shan faltete das Blatt und wollte es einstecken. Dann besann er sich eines anderen und gab es Yeshe, der es in seinem Hemd verstaute und dabei zum erstenmal so wirkte, als verspüre er eine gewisse Befriedigung.
Langsam schlüpfte Shan aus der Nische und ließ seine drei Begleiter bei den Wandgemälden zurück. Er betrat den Gang, in den Oberst Tan ihn mitgenommen hatte. Unmittelbar bevor das Licht seiner Lampe auf den ersten der Schädel fiel, blieb er stehen und versuchte sich zu überlegen, wie er die anderen hierauf vorbereiten sollte. Doch es fiel ihm nichts ein, und so zwang er sich weiterzugehen.
Sogar die Toten in Tibet waren anders. Zu Hause hatte er nach der Kulturrevolution einige Massengräber gesehen. Aber dort hatten die Toten weder heilig noch weise oder auch nur vollständig gewirkt. Sie schienen einfach nur benutzt worden zu sein.
Während er dem Gang in den Schrein folgte, ertappte er sich plötzlich dabei, wie er keuchend nach Luft rang. Er blieb stehen und musterte die Reihen leerer Augenhöhlen. Sie schienen ihn alle zu beobachten, die zahllosen Schädel, die wie die endlose Gebetskette aus Totenköpfen aussahen, die Khorda ihm in die Hände gedrückt hatte, bevor er Shan nach Tamdin rufen ließ. Plötzlich wurde ihm klar, daß diese Schädel Zeugen gewesen waren. Tamdin war mit Ankläger Jaos Kopf hier aufgetaucht, und die Schädel hatten das alles mit angesehen. Die Schädel wußten es.
Hinter sich spürte er ein Schaudern. Die anderen hatten den Gang entdeckt. Fowler stöhnte. Kincaid fluchte laut. Yeshe gab eine Art Wimmern von sich. Shan biß die Zähne zusammen und ging weiter bis zu dem Regal, auf dem Jaos Kopf gelegen hatte. Er versuchte, den Abschnitt zu zeichnen, hielt jedoch inne. Seine Hand zitterte zu sehr.
»Was erwarten Sie hier zu finden?« flüsterte Yeshe nervös über seine Schulter. Er stand mit dem Rücken zu Shan, als rechne er damit, jeden Augenblick hinterrücks überfallen zu werden. »Wir sollten an einem Ort wie diesem nicht länger verweilen.«
»Der Mörder ist mit Jaos Kopf hergekommen. Ich möchte den Schädel finden, der hier weggenommen wurde, um Platz für Jao zu schaffen. Warum wurde gerade dieses Regal ausgewählt? Gab es einen Grund dafür, daß gerade dieser Schädel weggenommen wurde? Und
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