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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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habe tatsächlich einen Moment lang geglaubt, ich hätte ein Gespenst gesehen.« Tyler Kincaid stieß ein kurzes, gequältes Lachen aus und richtete einen starken Handstrahler auf die Höhle hinter ihnen. »Sind Sie allein?«
    »Die Armee ist draußen«, rief Yeshe, als wolle er den Amerikanern drohen.
    »Sergeant Feng ist draußen«, korrigierte Shan.
    »Tja, hier sind wir also«, sagte Kincaid und machte noch ein Foto. »Wie Diebe in der Nacht, könnte man sagen.«
    »Diebe?«
    »Bloß ein Scherz - ich meine, wie Sie hier ohne Licht herumschleichen. So ganz offiziell kommt mir das nicht vor.«
    »Und falls man mich fragt, wie soll ich die Verbindung zwischen dieser Höhle und Ihrem Minenprojekt erklären, Miss Fowler?« fragte Shan.
    Kincaids Bemerkung schien ihr Selbstvertrauen wiederhergestellt zu haben. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Die UN-Kommission für Altertümer. Wer wird danach fragen?« Sie neigte den Kopf. »Und wieso sind Sie hier?«
    Shan ignorierte die Frage. »Und Mr. Kincaid?«
    »Ich habe ihn gebeten mitzukommen. Wegen der Bilder.«
    Shan erinnerte sich an die Fotos der Tibeter im Büro des Amerikaners.
    »Und wieviel haben Sie bisher gesehen?«
    »Das hier.« Rebecca Fowler wies mit ausholender Geste respektvoll auf die umliegende Hauptkammer. »Und eben gerade haben wir die Aufzeichnungen entdeckt.«
    »Aufzeichnungen?«
    Sie führte ihn in die Nische, deren Eingang teilweise durch einen Segeltuchvorhang verdeckt wurde. Aus Brettern und Holzkisten hatte man drei primitive Tische gefertigt. Auf dem ersten Tisch standen Kartons voller Akten, auf dem zweiten leere Bierflaschen und von Zigarettenstummeln überquellende Aschenbecher. Der dritte Tisch war weitaus sauberer. Man hatte ein Tuch darüber gebreitet, unter dem einige Schachteln mit Disketten, die Unterlage eines tragbaren Computers und ein offenes Hauptbuch lagen.
    Kincaid schoß weitere Fotos, während Shan und Fowler das Buch in Augenschein nahmen, dessen erster Eintrag einen Monat zurücklag. Es verzeichnete den Abtransport eines Altars, mehrerer Reliquienschreine, Opferlampen und einer Buddhastatue. Abmessungen, Gewicht und Mengenangaben waren peinlich genau aufgeführt.
    »Was steht da?« fragte Fowler. Es war nicht unüblich, daß Ausländer lediglich den chinesischen Wortschatz, nicht jedoch die Schriftzeichen lernten.
    Shan zögerte einen Moment und faßte die Angaben dann schnell zusammen.
    »Was ist mit Büchern?« fragte Tyler Kincaid. »Die alten Manuskripte. Jansen sagt, sie seien normalerweise gut erhalten und könnten leicht gerettet werden.«
    Auf einer der Seiten war die Entnahme von zweihundert Manuskripten vermerkt. »Ich weiß es nicht«, entgegnete Shan.
    Er wußte sehr wohl, was mit gefundenen Manuskripten passierte. Einmal hatte ein Kipplaster mehrere hundert alte religiöse Traktate vor der 404ten ausgeschüttet. Dann hatte man die Häftlinge mit vorgehaltener Waffe gezwungen, die Bände in kleine Stücke zu reißen, die daraufhin in großen Kesseln gekocht und mit Kalk und Sand vermischt wurden, um als Mörtel für die neue Latrine der Wachen zu dienen.
    »Und auf der ersten Seite?« fragte Fowler.
    »Der ersten Seite?«
    »Wer hat das geschrieben? Wer hat die Leitung inne?«
    Shan blätterte zurück. »Ministerium für Geologie, steht da. Auf Anweisung von Direktor Hu.«
    Fowlers Hand schoß vor und hielt die Seite fest. Dann rief sie Kincaid und forderte ihn auf, das Buch zu fotografieren. »Dieser Bastard«, murmelte sie. »Kein Wunder, daß Jao ihn aufhalten wollte.«
    Konnte es sein, dachte Shan, daß Fowler nicht wegen der Altertümer in dieser Höhle war, sondern wegen ihrer Betriebserlaubnis?
    Kincaid tauschte das Objektiv aus und fing an, die Seiten zu fotografieren. Bei den detaillierten Einträgen hielt er inne. »Man hat einen Altar mitgenommen, haben Sie gesagt. Wo steht das?«
    Shan zeigte es ihm.
    Kincaid wies mit ausgestrecktem Finger auf eine senkrechte Zahlenreihe im rechten Teil der Seite. »Was ist das?«
    »Gewichte und Abmessungen«, erklärte Shan.
    »Da steht hundertsechsunddreißig Kilo.« Der Amerikaner nickte. »Aber sehen Sie nur, hier ist etwas, das sogar noch mehr wiegt. Hundertneunzig Kilo.«
    »Die Statue.«
    »Das kann nicht sein«, wandte Kincaid ein und folgte der Zeile des Eintrags. »Hier steht, sie ist nur einundneunzig Zentimeter hoch.«
    Shan schaute noch einmal nach. Der Amerikaner hatte recht.
    Yeshe, der über ihre Schultern blickte, hatte eine Erklärung parat. »In

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