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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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wo ist der Schädel geblieben?« Shan war sich nahezu sicher, daß er die Antwort auf die letzte Frage bereits kannte. Der fehlende Schädel war bestimmt in die Hütte geworfen worden, um mit den anderen Köpfen verarbeitet zu werden.
    Yeshe schien ihm nicht zugehört zu haben. »Bitte«, flehte er. »Wir müssen gehen.«
    Als die Amerikaner näher kamen, sprachen sie über tibetische Geschichte. »Kincaid meint, dies sei vermutlich eine Höhle von Guru Rinpoche gewesen«, sagte Fowler. Auch sie flüsterte jetzt.
    »Guru Rinpoche?« fragte Shan.
    »Der berühmteste der alten Einsiedler«, schaltete Yeshe sich ein. »Er hat im Laufe seines Lebens zahlreiche Höhlen in ganz Tibet bewohnt und jede zu einem Ort großer Macht werden lassen. Die meisten wurden schon vor Jahrhunderten in Schreine umgewandelt.«
    »Ich wußte ja gar nicht, daß Mr. Kincaid ein solcher Gelehrter ist«, merkte Shan an.
    »Jao wollte sie aufhalten«, sagte Fowler plötzlich mit heiserer Stimme. Shan blickte auf. Eine einzelne Träne glitt ihre Wange hinab.
    »Was ist das?« fragte Yeshe in gehetztem Flüsterton. »Ich glaube, ich habe etwas gehört!«
    Da war tatsächlich etwas. Shan spürte es. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Keine Person. Etwas Unbeschreibliches und Gewaltiges, das durch Fowlers Traurigkeit ausgelöst worden zu sein schien. Er ließ den Block sinken und stand schweigend mit den anderen da, während die Blicke aus den leeren Augenhöhlen der schimmernden Schädel sie durchbohrten. Sie befanden sich nicht im Herzen des Bergs. Sie standen im Zentrum des Universums, und die lähmende Stille, die sie umfing, war gar keine Stille, sondern eine bedrohliche Atempause, wie unmittelbar vor einem gellenden Schrei.
    Auf einmal erkannte Shan, daß Choje recht hatte. Es war völlig bedeutungslos, ob es sich bei Tamdin tatsächlich um das groteske Ungeheuer handelte, das Shan auf dem Wandgemälde gesehen hatte. Wer oder was auch immer der Mörder gewesen war, es mußte sich um einen Dämon handeln, und zwar nicht wegen der Enthauptung des Anklägers Jao, sondern weil er die Häßlichkeit dieser Tat an solch einen makellosen Ort gebracht hatte.
    Shan bemerkte noch etwas Neues, ein leises raschelndes Geräusch, das zu einem regelrechten Geplapper anschwoll. Es schien von den Schädeln zu kommen. Rebecca Fowler trat mit angsterfülltem Blick näher an Kincaid heran. Die beiden standen wie erstarrt da und lauschten, dann drehte Kincaid sich plötzlich herum und richtete seine Kamera auf Yeshe. Er feuerte den Blitz wie eine Waffe ab, und das Geräusch verstummte. Da begriff Shan, daß sie den Widerhall eines Mantras gehört hatten, dessen Urheber Yeshe gewesen war.
    Der Bann war gebrochen.
    »Sie könnten mir behilflich sein«, sagte Shan, nachdem er sich gefangen hatte.
    Fowler blickte verstört auf. »Gern.«
    »Wir brauchen eine Bestandsaufnahme. Könnten Sie, Mr. Kincaid, die Regale fotografieren?« Die Schädel wußten es, rief Shan sich ins Gedächtnis. Vielleicht konnte er sie zum Sprechen bringen.
    Kincaid nickte langsam. »Die drei Regalbretter dürften jeweils auf eine Aufnahme passen. Mein Film müßte gerade noch dafür ausreichen.«
    »Die Inschriften bei jedem der Schädel müssen mit aufs Bild. Nachdem ich mir die Fotos angesehen habe, könnten wir sie vielleicht an Ihre UN-Kommission weiterleiten.«
    Fowler bedankte sich bei Shan mit einem kleinen traurigen Nicken, blieb jedoch im Hintergrund, als Yeshe sich daran machte, Kincaid bei der ersten Reihe von Schädeln zu helfen. Vorsichtig folgten sie und Shan dem weiteren Verlauf des Gangs. Die Regale hörten auf und wichen weiteren Dämonenbildern, die auf die Wände gemalt waren.
    »Stimmt es, daß man Sie hierzu zwingt und daß Sie irgendein Gefangener sind?« fragte Fowler plötzlich.
    Shan ging weiter. »Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »Niemand. Tyler hat lediglich erwähnt, daß keiner weiß, wer Sie sind. Wir dachten, Sie wären irgendein auswärtiger Beamter. Aber auswärtige Beamten.. ich weiß nicht... auswärtige Beamten werden normalerweise sehr respektvoll behandelt.« Sie schreckte vor ihren eigenen Worten zurück.
    Ihre Verlegenheit rührte ihn.
    »Tyler sagt, es sei komisch, wie Ihr Sergeant Sie im Auge behält. Er trägt eine Waffe, aber er ist kein Leibwächter, denn dann würde er auf Ihr Umfeld aufpassen. Doch Ihr Sergeant beobachtet nur Sie.«
    Shan blieb stehen und richtete seine Taschenlampe auf das Gesicht der Amerikanerin. »Wenn ich nicht gerade mit einer

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