Der freundliche Mr Crippen | Roman
um sicher zu sein, dass alles einen Sinn ergeben würde. Inspector Dew betrachtete ihn durchaus mit Mitgefühl. Wenn er ihn auch erst seit kurzer Zeit kannte, hatte er sich doch bereits eine Meinung über den Doktor gebildet. Er schien ihm ein harmloser, höflicher, umgänglicher Zeitgenosse zu sein, der kaum etwas mit dem degenerierten Abschaum zu tun hatte, mit dem er, Dew, sich täglich herumzuschlagen hatte. Er bezweifelte, dass dieser Mann zu einer Tat fähig war, wie sie ihm Mrs Louise Smythson und Mrs Margaret Nash unterstellten.
»Meine Frau«, begann Hawley, und er holte tief Luft, bevor er fortfuhr. »Sehen Sie, Inspector, meine Frau ist ganz und gar nicht tot.«
Dew hob eine Braue und holte sein Notizbuch wieder hervor. »Nicht tot«, sagte er mit flacher Stimme.
»Nein. Sie ist sogar ziemlich lebendig.«
»Verbessern Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage, Dr. Crippen«, sagte Dew. »Aber haben Sie nicht ihren Freundinnen erklärt, sie sei tot?«
»Genau das habe ich.«
»Vielleicht können Sie mir das erklären?«
»Cora ist tatsächlich nach Amerika gefahren«, sagte Hawley. »Aber ob sie nun in Kalifornien ist oder nicht, weiß ich nicht. Wenn ich eine Vermutung äußern sollte, wäre ich geneigt, Florida zu sagen, doch das ist reine Spekulation.«
»Florida? Warum um alles in der Welt gerade Florida?«
»Weil er daher stammte, wissen Sie.«
»Er?«
Hawley biss sich auf die Lippe und wandte den Blick ab. Traurig schüttelte er den Kopf. »Es ist eine skandalöse Geschichte, Inspector«, sagte er. »Und deshalb wollte ich nicht, dass jemand davon erfuhr.«
»Bitte, Doktor, wenn Sie mir einfach die Wahrheit sagen könnten, das würde es um einiges leichter machen.«
»Sie hat mich wegen eines anderen Mannes verlassen. Wie ich Ihnen schon sagte, war meine Frau eine Music-Hall-Sängerin, und sie hat diesen Kerl eines Abends bei einer Aufführung kennengelernt. Er war ein wohlhabender Amerikaner, der die Welt bereiste. England war seine letzte Station vor der Rückkehr nach Hause. Auf jeden Fall hat sie mich mit ihm betrogen und wurde schwanger.«
»Verstehe.«
»Dann hat sie mir gestanden, dass sie in den Kerl verliebt sei und er sie mit nach Amerika nehme. Natürlich war ich am Boden zerstört. Ich habe meine Frau sehr geliebt, Inspector. Das habe ich wirklich. Wobei ich glaube, dass sie sich nach einem aufregenderen Leben gesehnt hat, als ich es ihr bieten konnte. Sie hat mir oft vorgeworfen, dass ich sie an ihrer Entfaltung hinderte, und dieser andere Mann hatte ihr mehr zu bieten, denke ich. Geld und Glanz, ein neues Leben in Amerika. Ich sagte, ich würde ihr vergeben und das Kind wie mein eigenes behandeln, aber sie war nicht interessiert. Am Abend war sie noch hier, und am nächsten Morgen packte sie ihre Taschen und kehrte London für immer den Rücken. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wäre bekannt geworden, was geschehen war, hätte es einen Skandal gegeben. Aber ich bin Arzt und brauche meine Patienten. So eine Sache hätte meine Praxis über Nacht ruinieren können, und …« Hawley wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und wirkte zunehmend verloren. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass es mir peinlich war. Ich hatte das Gefühl, es würde aussehen, als wäre ich nur ein halber Mann. Es war zu viel für mich, Inspector. Von jemandem aus meiner eigenen Heimat Hörner aufgesetzt zu bekommen. Das war einfach zu viel.«
Inspector Dew streckte den Arm aus und tätschelte Hawley den Ellbogen. Das Letzte, was er wollte, war, dem Mann die Tränen zu trocknen, aber er konnte sehen, wie unglücklich der Ärmste war, und das Leiden anderer Menschen ließ den Inspector nicht unberührt.
»Entschuldigen Sie, Dr. Crippen«, sagte er. »Das muss schmerzhaft für Sie sein.«
»Nein, ich muss mich entschuldigen«, antwortete Hawley und schüttelte den Kopf. »Ich hätte mir nie so eine komplizierte Geschichte ausdenken sollen. Es war falsch von mir. Ich glaube, irgendwo tief in mir habe ich mir tatsächlich gewünscht, sie wäre gestorben und hätte mich nicht verlassen. Klingt das schrecklich?«
»Es ist völlig verständlich, würde ich sagen«, antwortete Dew.
»Nein, es ist unverzeihlich. Vielleicht habe ich sie nicht glücklich gemacht.«
»Sie dürfen sich nicht die Schuld daran geben.«
»Aber das tue ich, Inspector. Und sehen Sie nur, was ich damit alles losgetreten habe. Scotland Yard verhört mich, und jetzt kommt die Wahrheit ans Licht. Alle
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