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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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war selten, dass so ein gut angezogener Gentleman Notiz von ihnen nahm, geschweige denn sie ansprach.
    »’n Abend, Sir«, murmelte eines von ihnen und wurde gleich von seinen Freunden mit höhnischen Blicken bedacht.
    Zu seiner Überraschung und Enttäuschung war das Wohnzimmerfenster von 39  Hilldrop Crescent dunkel, aber er sagte sich, dass seine Freunde sicher noch oben waren und sich zum Essen ankleideten, oder vielleicht saßen sie auch hinten im Garten. Schließlich hatten sie eine Verabredung, und es war genau acht Uhr. Es war nicht so, als wären sie nicht zu Hause. Er tanzte praktisch die Stufen zur Tür hinauf, klopfte dreimal, und als seine Knöchel das letzte Mal auf das Holz trafen, stellte er überrascht fest, dass die Tür nachgab und sich ein paar Zentimeter öffnete. Licht von der Straße ergoss sich in Dr. Crippens dunkle Diele.
    Dew blinzelte, lauschte auf Geräusche, und als er nichts hörte, drückte er die Tür langsam auf. Die Angeln quietschten wie in einer Schauergeschichte, und Dew musste an Jonathan Harkers Ankunft im Schloss des Grafen Dracula denken. Aber er ging nicht hinein, sondern beugte sich nur vor und rief: »Hawley? Miss LeNeve?«
    Er bekam keine Antwort und sah nervös die Straße hinauf und hinunter. Obwohl er einer der leitenden Beamten von Scotland Yard war, konnte er sich vorstellen, dass jemand, der ihn dabei beobachtete, wie er ein Haus betrat, das ihm nicht gehörte, den örtlichen Constable rief, um ihn verhaften zu lassen, was für alle eine peinliche Sache wäre und ganz sicher ärgerlich für seine Gastgeber. Allerdings schien im Moment niemand zu ihm herzusehen, und so schlüpfte er schnell hinein und schloss die Tür hinter sich.
    Düsternis umfing ihn, und er zitterte. Es war kalt hier drinnen, obwohl sie doch Hochsommer hatten. »Hawley?«, rief er wieder. »Walter Dew ist hier, von Scotland Yard. Miss LeNeve?« Seine Worte wanderten durch die Luft und verloren sich in der Ferne. Dew runzelte die Stirn, seine Enttäuschung verschwand einen Moment lang hinter dem Mysterium ihrer Abwesenheit. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, in dem er bereits mehrfach gesessen hatte, und sah hinein. Es war makellos sauber wie immer, aber etwas schien heute anders. Er ging in die Küche und legte die Hand auf die Teekanne. Kalt. Er sah in die Spüle, die völlig trocken war, was darauf hindeutete, dass sie wenigstens einen Tag nicht benutzt worden war. Er biss sich auf die Lippe, ging zurück in die Diele, stieg die Treppe hinauf und sah hinter die Türen, bis er Dr. Crippens Schlafzimmer fand. Er öffnete den Schrank. Er war noch halb voller Kleider, aber auf einer Seite hing eine ganze Anzahl leerer Bügel und die verbliebenen Sachen waren ganz zur Seite gedrückt. Er überlegte, warum das so sein mochte, und ging zurück nach unten, um sich genauer umzusehen. Auch nicht eine Sekunde lang wollte er sich vorstellen, dass es unheilvolle Gründe für das alles gab, obwohl klar war, dass hier etwas Ungewöhnliches vorging.
    Er stand in der Diele, die Hände in die Hüften gestützt, und fragte sich, wohin er sich wenden sollte, als sein Blick auf eine Tür unter der Treppe fiel, die ihm bisher nicht aufgefallen war. Er betrachtete sie eine Weile, dann trat er auf sie zu und fasste die Klinke so fest, als hätte er Angst, sie könnte sich ihm entwinden. Hinter der Tür führte eine Treppe hinunter in den Keller, die er vorsichtig hinabstieg. Er schaltete die einzelne Glühbirne ein, die unten neben den Stufen hing und den Raum mit einem dürftigen Lichtschein erfüllte. »Hawley?«, sagte er erneut, diesmal eher flüsternd und ohne tatsächlich mit einer Antwort zu rechnen.
    Der Keller war etwas feucht, und die Luft roch modrig. Überall stand Gerümpel herum, und er senkte den Blick auf den schmierigen Steinboden. Der Raum ließ ihn frösteln, und er überlegte, ob er wieder nach oben gehen sollte, als ihm der Zustand des Steinbodens hinten in der Ecke auffiel, etwa drei, vier Meter von ihm entfernt. Die Steinplatten dort waren sauber und die Fugen klar zu erkennen, so als hätte jemand den Boden erst vor einiger Zeit entfernt, die Platten für eine Weile zur Seite gestellt und anschließend neu verlegt. Dew schluckte nervös, trat näher und ging in die Hocke.
    Der Geruch drang ihm in die Nase, noch bevor er die erste Platte berührte, und er würgte angewidert. Trotzdem fuhr er mit den Fingern, den Kopf leicht abgewandt, in eine der Fugen und konnte eine Platte anheben, die

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