Der freundliche Mr Crippen | Roman
Kapitän machte große Augen. Er hatte schon an alle möglichen Übertreibungen gehört, was Dr. Crippen und sein Verbrechen betraf, aber offensichtlich gehörte die Kannibalismusgeschichte zu den hartnäckigsten. »Ich glaube nicht, dass er das getan hat«, sagte er zweifelnd, »doch selbst wenn es so wäre, wäre das nur ein zusätzlicher Grund, ihn zu fassen, meinen Sie nicht?«
»Nein, das meine ich nicht«, sagte Bellows. »Der Kerl ist ein hinterhältiger Psychopath. Natürlich muss er gefasst werden, aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass gerade dieses Schiff die Aufgabe auf sich nimmt. Es ist gut möglich, dass sich der Kerl umdreht und uns alle umbringt.«
»Es sind mehr als sechzehnhundert Menschen an Bord der
Laurentic«
, sagte Taylor. »Das wäre für ihn wohl äußerst schwer zu bewerkstelligen.«
»Das sagen Sie jetzt«, widersprach ihm der andere, »Sie haben ja keine Ahnung, zu was dieser Mann fähig ist.«
»Vielleicht nicht. Aber sechzehnhundert Menschen …«
»Ich muss trotz allem protestieren, Kapitän Taylor, und ich möchte, dass das im Logbuch vermerkt wird.«
Der Mann hatte zu viele Schauerromane gelesen, das war klar. Dennoch stimmte Taylor zu, den geforderten Eintrag zu machen, und Mr Bellows ging wieder, immer noch unzufrieden, doch für den Augenblick beschwichtigt. Trotz aller Spannung und all der Ängste vor dem, was vor ihnen lag, konnte niemand die
Laurentic
davon abhalten, ihren gegenwärtigen Kurs beizubehalten, und so versammelten sich am Morgen des 27 . Juli Hunderte von Passagieren an Deck des Schiffes und säumten mit einer Mischung aus Angst und Faszination die Reling, um einen ersten Blick auf die
Montrose
zu erhaschen.
»Denken Sie, das ist klug?«, fragte Kapitän Taylor den Inspector, während sie auf der Brücke standen und abwechselnd den Horizont vor sich absuchten. »Ich könnte die Passagiere auch in ihre Kabinen schicken, wenn es Ihnen lieber ist.«
»Das sähe noch merkwürdiger aus«, sagte Dew. »Dann wirkten wir für jeden, der zu uns herübersähe, wie ein Geisterschiff. Nein, so wie es ist, werden sie auf der
Montrose
nur denken, dass ihnen unsere Passagiere zuwinken wollen. Es ist ja nicht so, als könnten sie über die Wellen hinweg verstehen, was hier gesagt wird.«
»Nein«, sagte der Kapitän, »das ist richtig. Und Sie sind ganz sicher, dass wir kein Boot zu Wasser lassen sollten, um Sie damit hinüberzubringen?«
»Ganz sicher. Ich werde damit warten, bis sie kurz vor der Landung stehen«, antwortete Dew. »Je weniger wir den Betrieb der
Montrose
stören, desto besser. Ich traue diesem Crippen nicht. Er ist zu allem fähig, und an Bord könnte eine Panik ausbrechen, wenn bekannt wird, wer er ist.«
Ein Seemann kam mit einem Bündel Papiere zum Kapitän. »Käpt’n«, sagte er und hielt sie in die Höhe. »Das ist alles während der letzten Stunde über den Marconi-Telegrafen gekommen. Sieht so aus, als wollte jede Zeitung auf dieser Welt wissen, was vorgeht. Alle wollen sie mit Ihnen sprechen, Inspector.«
Dew lächelte. Er genoss das Gefühl, ein berühmter Mann zu sein. »Ich warte, bis wir sie überholt haben«, sagte er. »Vielleicht könnten Sie mir dann einen Funker zur Verfügung stellen, Kapitän? Damit ich ein paar der Fragen beantworten und den letzten Stand an den Yard durchgeben kann.«
»Gewiss, gewiss«, sagte Taylor etwas schroff, klopfte dem Inspector auf die Schulter und deutete in die Ferne. »Sehen Sie«, sagte er und wurde wider alle Erwartung von einem Gefühl von Angst und Schrecken erfüllt. »Das ist sie. Die SS
Montrose.
«
Applaus, durchsetzt mit ein paar hysterischen Schreien, war vom Deck der
Laurentic
zu hören, als mehr und mehr Passagiere die
Montrose
in den Blick bekamen. Kapitän Taylor hatte vor, sein Schiff noch etwas näher an das andere heranzubringen, bevor sie es überholten, und er gab seinem Steuermann die entsprechenden Anweisungen.
Die Passagiere, die an Deck der
Montrose
die Morgensonne genossen, waren überrascht, ein anderes Schiff am Horizont auftauchen zu sehen. »Sehen Sie nur, Mr Robinson«, sagte Martha Hayes und beschattete die Augen mit einer Hand, als die
Laurentic
sich näherte. »Da kommt ein anderes Schiff. Was für eine Überraschung.«
»Ein anderes Schiff?«, fragte er, wachte aus seinem Dämmerschlaf auf und sah aufs Meer hinaus. »Unmöglich.«
»Doch. Da drüben.«
Er blinzelte in die Sonne und sah, dass sie recht hatte. »Himmel«, sagte er. »Ich staune, dass
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