Der freundliche Mr Crippen | Roman
reagiert, seine, Kendalls, Einschätzung gleich ernst genommen und offenbar sogar zusätzlichen Respekt vor seinem Kapitän entwickelt. Zudem hatte er bewiesen, dass ihm zu trauen war, denn bisher hatte niemand von der Mannschaft oder den Passagieren etwas von den Vorgängen mitbekommen. Aber konnte er Schach spielen? War er bereit, bis spät in die Nacht mit ihm wach zu bleiben? Konnte er jemals ein so enger Freund werden, wie Mr Sorenson es für ihn geworden war?
»Sie sollten wissen, Mr Carter«, sagte Kendall, als er endlich seine Stimme wiederfand, dem Jüngeren jedoch nicht in die Augen sah, »dass ich denke, Sie haben auf dieser Reise gute Arbeit geleistet. Unter durchaus schwierigen Bedingungen.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Carter verblüfft.
»Mir ist bewusst, dass wir nicht den besten Start miteinander hatten, aber Sie haben mich mit Ihrer Arbeit beeindruckt, und ich bin nicht jemand, der so etwas ungewürdigt lassen würde.«
»Es ist sehr gütig, dass Sie das sagen, Sir, aber nicht wirklich nötig. Ich weiß, dass es sehr schwer sein kann, einen vertrauten Kollegen durch einen Neuling ersetzen zu müssen.«
»Ja«, murmelte der Kapitän und wollte schon sagen, dass Carter niemanden ersetzt, sondern nur die Lücke gefüllt hatte, die durch eine Krankheit entstanden war.
»Noch nichts Neues über Mr Sorenson, Sir?«
Kendall schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Aber Sie werden sich zweifellos auf die Rückkehr zu Ihrer Frau freuen«, fügte er noch hinzu, da er das Gefühl hatte, ein freundliches Wort sei als Antwort angebracht.
Carters Gesicht wurde von einem breiten Lächeln überzogen. »Ja, ich würde gern das Schiff am 3 . August nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich meine, jetzt, wo klar ist, dass wir definitiv pünktlich ankommen.«
»Ja, das ist in Ordnung.«
»Dann sollte ich einen Monat oder so vor der Geburt wieder zu Hause sein. Ich möchte auf jeden Fall sichergehen.«
Kendall stand auf, er wollte das Thema nicht weiter vertiefen. Familiengeschichten interessierten ihn genauso wenig wie Inspector Dew. Beide waren Männer, die ihr Leben ganz dem Beruf widmeten. »Sagen Sie der Mannschaft vor morgen Abend noch nichts«, sagte er. »Damit bleibt den Männern noch genug Zeit, sich vor unserer Ankunft in Kanada an den Gedanken zu gewöhnen. Und alle müssen wissen, dass die Passagiere nichts erfahren dürfen, sonst kommt es hier zu einem Hexentanz. Wenn auch nur irgendetwas nach außen dringt, werde ich herausfinden, wer dafür verantwortlich war, und derjenige wird nie wieder mit einem Schiff der Canadian-Pacific-Flotte fahren.«
»Verstanden, Sir«, sagte Carter, stand auf und ging zur Tür. Er war froh, dass der Kapitän endlich mit einer Art Friedensangebot kam, hatte er doch vom allerersten Augenblick an alles getan, um Kendalls peinlich genauen Standards gerecht zu werden. Es konnte ihm kaum zur Last gelegt werden, dass Mr Sorensons Blinddarm geplatzt war. »Man kann nie sicher sein, Sir, oder?«, sagte er und drehte sich vor dem Hinausgehen noch einmal um.
»Wie bitte?«
»Ich sagte, dass man sich nie sicher sein kann. Was die Leute angeht. Ich meine, dieser Mr Robinson, nun, der sieht aus, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun, und was seinen ›Edmund‹ angeht … im richtigen Licht sieht sie wirklich wie ein Junge aus. Ziehen Sie ihr einen Männermantel an, setzen Sie ihr den entsprechenden Hut auf, und Sie sind sicher, sie ist ein Mann. Glauben Sie, sie weiß, was er getan hat?«
Kendall zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen«, antwortete er. »Wenn ja, muss sie unglaublich dumm sein. Welche Frau würde bei einem Mann bleiben wollen, der seine Ehefrau zerstückelt hat? Da müsste sie ja Angst haben, ihn falsch anzugucken, weil er vielleicht gleich wieder die Messer zückt. Wenn sie es nicht weiß, könnte sie in Gefahr sein. Sie behalten die beiden doch genau im Auge, hoffe ich?«
»O ja.«
»Es sind nur noch ein paar Tage. Dann wissen wir mit Sicherheit, woran wir sind.«
Der Kapitän wandte sich von seinem Ersten Offizier ab, der die Geste verstand und hinausging. Kendall blieb allein zurück, starrte den Telegrafen an und versuchte, ihn mit reiner Willenskraft zum Leben zu erwecken. Schickt eine Nachricht, dachte er. Irgendetwas. Schickt einfach eine Nachricht.
Nachdem er den ganzen Morgen in seinem Liegestuhl gesessen hatte, kehrte Mr Robinson in seine Kabine zurück, um sich vor dem Mittagessen noch etwas frisch zu machen.
Weitere Kostenlose Bücher