Der freundliche Mr Crippen | Roman
oder?«, fragte sie mit großen Augen, nahm seine Hand und zog ihn auf einen Liegestuhl. Die Hand hielt sie vorsorglich fest, damit er ihr nicht davonlief.
»In der Tat«, gab er zu, »obwohl man es kaum noch eine Leiche nennen konnte.«
Sie schnappte nach Luft und legte sich die freie Hand auf den Mund. Ihre unschuldige Miene im Verbund mit ihrem enormen Verlangen, auch noch die letzten grausigen Einzelheiten der Tat dieses Dr. Crippen zu erfahren, amüsierten und erschreckten Dew gleichermaßen. Dennoch mochte er diese junge Frau weit mehr als die älteren lüsternen Passagiere, denn sie wusste, wie sie es anstellen musste, damit er sich wichtig fühlte.
»Wie unerschrocken Sie sein müssen! Und diese arme Frau«, sagte sie. »Denken Sie, die beiden waren einmal glücklich, Inspector?«
»Glücklich?«
»Die Crippens. Ich meine, sie haben geheiratet, also müssen sie sich doch einmal geliebt haben.«
Er überlegte. »Das geht nicht notwendigerweise zusammen«, sagte er. »Auch wenn es bei Ihnen zweifellos so ist.«
»Natürlich!«, sagte sie. »Ich hätte nie geheiratet, wenn ich meinen Mann nicht lieben würde. Meine Eltern wollten mich schon vor zwei Jahren mit einem anderen verheiraten, aber ich habe es rundweg abgelehnt. Sein Vater war bei einer Handelsbank, und mein Vater dachte, eine Verbindung unserer beiden Familien wäre gut fürs Geschäft, aber ich konnte nicht. Schließlich war der Junge kaum größer als einen Meter fünfzig und hatte Warzen im Gesicht. Wie hätte ich so jemand heiraten können?«
»Da haben Sie recht«, sagte Dew mit einem kleinen Lächeln, denn er hatte ihren frischgebackenen Ehemann gesehen, einen großen, schneidigen Kerl mit schöner, sauberer Haut, der ein Tagebuch über das Leben an Bord führte. »Es ist gut, dass Sie gewartet haben.«
»Wollten Sie denn nicht davonlaufen?«, fragte sie.
»Davonlaufen? Wovor?«
»Weg aus diesem Keller. Als Sie ihre … Stücke gefunden haben. War das nicht zu widerwärtig, um es mit Worten zu beschreiben?«
»Angenehm war es nicht«, gab er zu. »Aber ich habe meinen Beruf gelernt«, erklärte er und genoss die Atmosphäre von Heldentum, die er verbreitete. »Ich bin seit vielen Jahren bei Scotland Yard. Da gibt es wenig, was mich noch erschrecken kann, meine Liebe.«
»Und das Blut?«, fragte sie. »Da muss so viel Blut gewesen sein.«
»Der Großteil war vom Sand aufgesaugt worden. Es stank nur entsetzlich. Aber wirklich, Mrs Bailey, das ist kaum ein passendes Gesprächsthema. Sie werden heute Nacht nicht schlafen können.«
»Ich muss zugeben, dass mich allein schon der Gedanke entsetzt«, sagte sie und beschloss, den erregenden Schauer zu verschweigen, den sie gleichzeitig empfand. »Stellen Sie sich vor, Conor würde mich leid werden, in kleine Stücke zerschneiden und im Keller vergraben. Das könnte ich ihm niemals verzeihen.«
»Ich bin überzeugt, das ist völlig unmöglich«, sagte Dew und sorgte sich plötzlich, es könnte zu einer Welle von Nachahmerfällen kommen, in London und vielleicht sogar der ganzen Welt, und dass er dann gerufen würde, um sie alle zu lösen. »Ich bin sicher, Sie sind in besten Händen.«
Sie war sich da nicht so sicher. Wie auch einige andere Passagiere schlief sie immer schlechter, je näher sie der
Montrose
kamen. Einer, ein sechzigjähriger Verwaltungsbeamter namens Bellows, ging sogar zum Kapitän, um gegen ihre Fahrtroute zu protestieren.
»Hören Sie«, sagte er, und sein Gesicht drohte in der Masse seiner Falten unterzugehen. »Das geht doch nicht. Das Schiff hatte eine klare Route, und jetzt weichen wir davon ab, um diesen Crippen zu fangen. Das darf doch nicht sein, oder?«
»Ich fürchte, uns bleibt keine Wahl, Mr Bellows«, sagte Kapitän Taylor. »Wir handeln auf ausdrückliche Anweisung von Scotland Yard, und wir weichen ja nicht weit von unserer Route ab, nur ein wenig. Wir kommen auf jeden Fall pünktlich in Kanada an. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«
»Aber was ist mit unserer Sicherheit? Wir sind eine Gruppe normaler Passagiere, die ihr Ziel erreichen wollen. Da kann doch nicht von uns erwartet werden, dass wir wahnsinnige Mörder fangen. Wir werden ganz gegen unseren Willen in diese Sache hineingezogen.«
»Es ist nur
ein
wahnsinniger Mörder, Sir«, korrigierte ihn der Kapitän. »Und vielleicht ist er nicht einmal wahnsinnig.«
»Er hat seine Frau umgebracht, oder? Er hat sie in kleine Stücke zersägt und ihr Herz gegessen, wie ich gehört habe.«
Der
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