Der freundliche Mr Crippen | Roman
ersetzte, hätte die Position doch seiner Meinung nach ihm zugestanden. Den Großteil der Reise hatte er mürrisch schweigend auf der Brücke zugebracht und sich geweigert, seinem direkten Vorgesetzten mit mehr als einem kurzen Knurren oder Grunzen zu antworten. Das war heute jedoch anders, denn ihm war mehr als bewusst, wie außergewöhnlich es war, dass sich zwei Schiffe bei einer Atlantiküberquerung so nahe kamen, es sei denn, es gab dafür einen besonderen Grund. Das Meer war ein riesiger leerer Raum, und jedes Schiff bekam eine spezielle Route, um möglichen Kollisionen vorzubeugen. Sowohl die
Montrose
wie auch die
Laurentic
waren von ihrer eigentlichen Route abgewichen, und er wollte wissen, warum.
»Das kann doch nicht in Ordnung sein, Sir?«, fragte er und sah Kapitän Kendall dabei an und nicht den Ersten Offizier. »Warum, denken Sie, kommt die uns so nahe?«
»Keine Ahnung, Dawson«, sagte Kendall und dachte gar nicht daran, ihn ins Bild zu setzen. »Aber ich würde mir keine Sorgen machen. Sie halten Abstand. Es ist nicht so, als wären wir auf Kollisionskurs. Behalten Sie nur unseren Kurs weiter bei, und alles ist in Ordnung.«
»Vielleicht wollen sie uns eine Nachricht zukommen lassen«, wandte Dawson ein, der unbedingt mehr erfahren wollte. »Sollten wir vielleicht nach dem Telegrafen sehen?«
»Steuern Sie einfach nur das Schiff, Mann«, sagte Billy Carter gereizt, »und verschonen Sie uns mit Ihrer Fragerei.«
Dawson schickte einen bösen Blick in seine Richtung, der andeutete, dass er seinen jüngeren Vorgesetzten am liebsten aufknüpfen würde, doch dann presste er die Lippen aufeinander und wandte sich von den beiden ab. Nach einer angemessenen Weile stieß der Kapitän seinen Ersten Offizier an und bedeutete ihm, ihm in den Funkraum zu folgen.
Wie immer schlossen sie die Tür hinter sich ab, und Kendall sah hoffnungsvoll zu der Maschine hinüber, doch da lag keine Nachricht über den Zustand von Mr Sorenson. Der Kapitän hatte in der Nacht geträumt, sein ehemaliger Erster Offizier wäre allein und verlassen in seinem Bett gestorben und ohne einen einzigen Freund begraben worden. Kurz nach sechs Uhr morgens war er aufgewacht, das Gesicht tränennass, das Bett verschwitzt, mit ausgetrocknetem Mund und schmerzendem Schädel. Warum schicken sie bloß keine Nachricht?, fragte er sich. Er selbst hatte schon sieben Mal telegrafiert.
»Inspector Dew hat sich heute schon gemeldet«, sagte Kendall, setzte sich und lud Carter mit einer Geste ein, es ihm nachzutun. »Er fährt direkt nach Quebec, damit die
Laurentic
anlegen und die Passagiere von Bord lassen kann.«
»Verstehe«, sagte Carter, »und er erwartet uns, wenn wir ankommen?«
»Ich denke, ja«, sagte der andere. »Obwohl er sich wegen der Menschenmengen Sorgen zu machen scheint.«
Carter hob eine Braue. »Wegen der Menschenmengen?«, fragte er. »Was für Menschenmengen?«
»Offenbar füllen wir weltweit die Titelseiten der Presse.«
»Sie machen Witze!«
»Nun, diese Crippen-Geschichte stand schon vor unserem Ablegen in Antwerpen recht weit oben, und die Jagd hat sie noch interessanter gemacht. Seit der Inspector an Bord der
Laurentic
gegangen ist, scheint jede Zeitung der Welt ihr zu folgen. Ihnen sind doch die Leute an Deck aufgefallen, als wir überholt wurden?«
»Aber ja«, sagte Carter. »Ich dachte allerdings, die wären nur so begeistert, weil sie einem anderen Schiff begegnet sind. Wie auch unsere Passagiere. Manch einer findet die See sehr isolierend.«
»Ich denke, es war mehr als das, wobei es uns hier bestens gelungen ist, die Sache für uns zu behalten. Allerdings wird sich das bald ändern müssen. Wir sollten die übrigen Offiziere einweihen, bevor wir in Kanada festmachen.«
»Verstehe.«
»Damit sie auf das Empfangskomitee gefasst sind.«
»Natürlich. Soll ich mich darum kümmern?«
»Wenn Sie das könnten?«
Für eine Weile kehrte Schweigen zwischen den beiden ein. In den letzten Tagen hatte sich ihr Verhältnis etwas verbessert. Der Ältere hatte sich innerlich mit dem Verlust von Mr Sorenson abgefunden und mit der Vorstellung, Mr Carter könnte in den nächsten Jahren zum festen Inventar der
Montrose
werden. Der Gedanke gefiel ihm zwar nicht sonderlich, doch ihm blieb wenig anderes übrig, als das Beste aus der Situation zu machen. Kendall war immer zufrieden mit seinem Schiff gewesen, und das durfte sich nicht ändern. Im Übrigen hatte Carter in der Sache mit Mr Robinson sachlich und hilfreich
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