Der freundliche Mr Crippen | Roman
Schönlinge auch versucht haben, sich Freiheiten mit ihr zu erlauben. Sie ist ein anständiges, ehrbares Mädchen, Mr Robinson. Täuschen Sie sich da nicht.«
»Sicher. Das bezweifle ich nicht. Aber was, wenn ich fragen darf, hat das mit mir zu tun?«
»Gestern Abend, Mr Robinson, kam Victoria spät in die Kabine zurück. Ich muss gestehen, dass ich bereits schlief, nachdem ich zuvor einen medizinischen Brandy getrunken hatte, um den Symptomen einer leichten Verkühlung entgegenzuwirken, die ich mir hier an Bord zugezogen habe. Ich habe Mr Drake
ausdrücklich
gesagt, er soll die Präsidentensuite buchen, aber er wollte nicht hören. Nein. Er bestand darauf, dass die Suite bereits vergeben sei, auch wenn ich mir dessen nicht mehr sicher bin.«
»Mrs Drake, geht es um eine Krankheit, an der Sie leiden? Soll ich Ihnen einen Arzt holen?«
»Das sollen Sie nicht!«, rief sie. »Und es geht hier auch nicht um eine Krankheit, wie Ihnen wohl bewusst sein wird. Victoria kam in unsere Kabine zurück und weckte mich mit ihrem Weinen wegen etwas, was gestern Abend an Deck dieses Schiffes vorgefallen ist.«
»Ach«, antwortete er. Am Morgen war er mit der Hoffnung aufgewacht, dass diese ganze Geschichte bis zum Nachmittag vergessen sein würde. Zwar schien es nötig, heute noch einmal mit Monsieur Zéla zu sprechen, aber der war ein verständiger Mann. Mr Robinson hoffte nur, dass sein schrecklicher Neffe während dieses Gesprächs in sein Zimmer gesperrt blieb. Als Mr Robinson am Abend zuvor noch spät die Kabine verlassen hatte, um nach Edmund zu suchen, den er schon seit einer halben Stunde erwartete, hatte er, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit auf Deck gewöhnt hatten, erst angenommen, dass sich dort zwei junge Leute umarmten, dann aber begriffen, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Er erkannte Edmunds Stimme, sah das Messer aufblitzen, sprang vor, packte ohne einen weiteren Gedanken Tom DuMarqués Hand und zerrte ihn von seinem Opfer weg. Ihn über die Reling zu werfen, war keine bewusst getroffene Entscheidung gewesen, sondern ein wütender Reflex auf das, was er gesehen hatte. Er hatte gar nicht anders gekonnt, und er war sicher, wäre Monsieur Zéla nicht in genau diesem Moment gekommen, läge Tom DuMarqué jetzt auf dem Grund des Ozeans, und er, Mr John Robinson, hätte ein gewissenloses Verbrechen begangen. Zum Glück war jedoch alles ohne eine Verletzung ausgegangen, und es war sein sehnlichster Wunsch, dass die Sache nicht weiter verfolgt wurde.
»Was soll dieses ›Ach‹ bedeuten?«, fragte Mrs Drake, und der Zorn trieb ihr kleine Speichelbläschen aus den Mundwinkeln. »Ich würde gerne wissen, was Sie in dieser Angelegenheit zu tun gedenken.«
»Dann hat Victoria Ihnen also alles erzählt?«, fragte er.
»Sie hat mir kaum etwas erzählt. Sie war viel zu aufgebracht und ist es immer noch. Ich habe jedoch eine ziemlich klare Vorstellung von den Vorgängen. Von der Sekunde an, da wir an Bord dieses Schiffes gegangen sind, Mr Robinson«, sagte sie wütend, »hat Ihr Sohn meiner Tochter gegenüber unangemessene Annäherungsversuche unternommen. Er ist ihr hinterhergelaufen wie ein kleines Hündchen und hat sich nach allem, was ich über den letzten Abend weiß, eine unentschuldbare Freiheit herausgenommen.«
Mr Robinson musste gegen seinen Willen lächeln und fragte sich, was für eine Geschichte Victoria wohl zusammengesponnen hatte, um ihre Haut zu retten.
»Sie lächeln, Mr Robinson?«, sagte Mrs Drake. »Finden Sie das etwa amüsant?«
»Nein, Mrs Drake, natürlich nicht«, antwortete er. »Es ist eine unglückliche Situation, aber ich glaube, Sie sind da womöglich, wie man so sagt, auf dem falschen Dampfer.«
»Wie bitte?«,
fragte sie, da sie den Ausdruck nicht kannte.
»Ich glaube, Sie täuschen sich da ein wenig«, erklärte er. »Edmund hat ganz sicher kein anderes Interesse an Victoria als ein rein freundschaftliches. Das kann ich Ihnen versichern.«
»Ich fürchte, meine Augen bringen mich zu einem anderen Schluss, Sir«, sagte sie hochnäsig. »Ihnen kann doch nicht entgangen sein, wie viel Zeit die beiden miteinander verbracht haben, die lauschigen Gespräche, die gemeinsamen Spaziergänge an Deck?«
»Ja, allerdings glaube ich, das alles geht hauptsächlich auf Victorias Betreiben zurück.«
»Was für eine beleidigende Bemerkung!«
»Ich will keineswegs etwas Unangemessenes unterstellen, glauben Sie mir. Es ist nur so, dass Ihre Tochter an meiner … an Edmund
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