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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Sein Magen rumorte ganz leicht, und sein Gesicht fühlte sich rau und trocken an, weil er zu lange in der Sonne gesessen hatte, und so beschloss er, nachmittags in der Kabine zu bleiben. Er wusch sich, wechselte das Hemd und wollte gerade in den Speisesaal gehen, um Edmund dort zu treffen, als es heftig an der Tür pochte. Überrascht blickte er auf. Das war nicht das respektvolle Klopfen eines Schiffsjungen oder Stewards mit einer Nachricht von Edmund oder einer Information zum Reiseverlauf, und es waren sicher auch keine Kinder vom Zwischendeck, die den Erste-Klasse-Passagieren regelmäßig einen Streich spielten, indem sie an ihre Türen klopften und jauchzend davonliefen. Nein, es musste etwas Ernsteres sein. So klopften Polizisten, Leute, die einem die Tür eintraten, wenn man nicht gleich aufmachte. Das Beste hoffend, öffnete Mr Robinson nervös und war überrascht, Mrs Antoinette Drake vor sich stehen zu sehen, die Hand erhoben, um erneut zu klopfen, die Wangen hochrot und die Knöchel weiß, so verkrampft ballte sie die Finger zur Faust.
    »Mrs Drake«, sagte er. »Was kann ich für …?«
    »Mr Robinson«, verkündete sie und drängte an ihm vorbei in die Kabine. »Ich muss sofort mit Ihnen sprechen. Bitte schließen Sie die Tür.«
    Er starrte sie perplex an. »Verzeihen Sie?«
    »Mr Robinson, ich denke, Sie sollten die Tür schließen, oder Sie erlauben jedem Passagier auf diesem Schiff zu hören, was ich Ihnen zu sagen habe. Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass Sie das nicht wollen.«
    Eingeschüchtert durch ihre schroffe Unhöflichkeit, schloss er die Tür und blieb daneben stehen. »Möchten Sie sich nicht setzen?«, fragte er.
    »Ich bleibe lieber stehen.«
    Sie schien keine Eile zu haben, ihm zu sagen, was ihr auf der Seele lag, und so standen sie fast eine Minute da, taxierten einander und warteten darauf, dass der andere anfing.
    »Mr Robinson«, begann sie endlich, und ihre Stimme verriet nur etwas Nervosität. »Mir ist bewusst, dass ich eine Frau bin, die allein und ohne ihren Ehemann reist, aber lassen Sie mich Ihnen versichern, dass mich das nicht zum Ziel von Beleidigungen und Schmähungen macht.«
    »Natürlich nicht«, sagte er und hatte immer noch keine Ahnung, worum es ihr ging.
    »Und lassen Sie mich Ihnen weiterhin versichern, wenn Mr Drake hier wäre, stünde er jetzt vor Ihnen und nicht ich, und was die Frage möglicher Gewaltanwendung betrifft, so sollten Sie wissen, Mr Robinson, dass Mr Drake als junger Mann Juniorenmeister im Boxen war und immer noch mit den Fäusten umzugehen weiß.« Sie beugte sich leicht vor. Die Augen schienen ihr aus den Höhlen treten zu wollen, und ihr Tonfall verriet, dass sie im Londoner East End aufgewachsen war, ehe ihre Heirat sie dazu gezwungen hatte, ihre Vergangenheit zu fiktionalisieren.
    »Mrs Drake, ich weiß nicht, was geschehen ist, aber …«
    »
Haben
Sie den Anstand, mich ausreden zu lassen, Sir«, sagte sie und hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich sage, was ich zu sagen habe, dann dürfen Sie sich entschuldigen, wie immer Sie wollen. Aber ich warne Sie, die Angelegenheit kann immer noch dem Kapitän zur Kenntnis gebracht werden.«
    »Mrs Drake, ich denke, Sie sollten sich setzen. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum Sie so erregt sind.«
    Endlich ließ sie sich schwer auf einen Stuhl fallen, und Mr Robinson setzte sich ihr gegenüber, hielt aber immer noch Abstand.
    »Vielleicht möchten Sie von vorn beginnen«, sagte er.
    »In den letzten Jahren ist mir klar geworden«, sagte sie, »dass meine Tochter Victoria, seit sie zur Frau aufblüht, für viele junge Männer zu einem Objekt der Zuneigung geworden ist. Es stimmt, sie ist ein schönes Mädchen, aber sie stammt auch aus einer Familie, die viele Schönheiten hervorgebracht hat. Ich selbst war in ihrem Alter eine außergewöhnliche Debütantin und musste mich einer Vielzahl von Verehrern erwehren, weshalb ich mir der Schwierigkeiten, denen sie sich gegenübersieht, nur zu bewusst bin.«
    »Aber ja«, sagte Mr Robinson und versuchte, sich diese massige, zudringliche Frau als jungfräuliche Blume vorzustellen, die ihre Tugend auf edle Weise gegen die lüsternen jungen Männern Londons verteidigte. Es war keine leichte Aufgabe.
    »Victoria hat in London und Paris eine ganze Anzahl Verehrer, aber sie hat sich ihnen gegenüber selbstverständlich immer mit makelloser Würde verhalten und sich nie auch nur einen Augenblick lang kompromittiert, so viele

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